Finstere Propheziung
nicht. Und dann, am Sonntag, brachte Lucinda Alex' nachmittägliche Junkfood-Ration an die Hintertür des Kassenhäuschens. Eine Tüte mit fettigen Fritten und eine Pfütze warmer Cola, die bräunlich und ohne Kohlensäure in einem Becher voll Eissplitter schwamm. »Hey, was ist eigentlich aus deiner Vorahnung geworden?« Alex suchte sich genau diesen Moment aus, um Luce ein bisschen zu ärgern. »Dass ich die Intelligenzbestie aus Massachusetts noch mal wiedersehe - sind deine telepathischen Fähigkeiten vielleicht zusammengebrochen?« Während sie das
Papptablett mit dem Ekel erregenden Zeugs zu Alex hinüberschob, brummte Lucinda: »Sehr witzig. Ach, übrigens: Danke, dass du so eine umwerfende Freundin bist, Lucinda, und mir so eine hervorragende Zwischenmahlzeit vorbeibringst.« Und sie schritt von dannen. »Danke, Luce«, rief Alex ihr nach. Dann wandte sie sich wieder dem Schalter zu und blickte auf. Hinter der Scheibe starrte ihr ein Gesicht entgegen. Es war ihr eigenes. Es war Camryn. Einen Augenblick sahen die Mädchen sich schweigend an. »Ich weiß, dass du beschäftigt bist«, brach es dann aus Cam hervor, »und wir sind schon auf dem Weg zum Flughafen. Ich wollte bloß ...« Sie ließ den Satz unvollendet, zuckte mit den Schultern, schob ein Stück Papier unter dem Fenster zu Alex hinüber und verschwand.
Kapitel 12 - MÜTTER LÜGEN NICHT
Auf dem Ordner im Arbeitszimmer ihres Vaters stand FAMILIE.
Das ist der Richtige, dachte Cam. Wenn meine Geburtsurkunde irgendwo in diesem Haus ist, dann ist sie hier in diesem Ordner. In den drei Tagen seit ihrer Rückkehr nach Marble Bay hatte sie sich ganz ihrer neuen Mission gewidmet. Der Mission Bekloppt. Als ob sie tatsächlich einen Beweis für etwas brauchte, von dem sie überzeugt war, dass es stimmte, einen Beweis, der Beth veranlassen würde, sie endlich in Ruhe zu lassen. Sie war Camryn Alicia Barnes, Tochter von Emily und David Barnes. Geboren am einunddreißigsten Oktober. Beth hatte Unrecht, Unrecht, Unrecht, wenn sie etwas anderes vermutete. Adoptiert. Klar. Zwillingsschwester. Sicher, was sonst. Diese Nachforschungen waren so behämmert, dass sie nicht einmal ihren Eltern gegenüber zugeben konnte, dass sie so etwas tat. Sie hatte gewartet, bis sie allein zu Hause war, bevor sie mit ihrer Schnüffelei anfing. Inzwischen hatte sie schon tonnenweise Babyfotos durchwühlt. Sie hatte zwar keine von ihrer Mutter während der Schwangerschaft gefunden, aber was hieß das schon? Ihre Mom ließ sich also nicht gerne in diesem Zustand fotografieren, na und?
Sie hatte Dylans Erste— Moment- Aufnahme ausgegraben, die im Krankenhaus gemacht worden war, ihr Bruder, ein kleines Baby mit einem zerknitterten roten Gesicht, das in eine hellblaue Decke gehüllt war. Dass sie von sich selbst kein solches Bild fand, ließ sie völlig kalt. Es war sicherlich einfach woanders. Jetzt überflog Cam den Inhalt des Ordners. Wie sie erwartet hatte, enthielt er mehrere wichtige Unterlagen der Familie. Den Kaufvertrag für das Haus. Die Heiratsurkunde ihrer Eltern. Das Testament ihres Großvaters. Aktien, Wertpapiere, Geldgeschichten. Und: Treffer! Eine Geburtsurkunde! Als Cam das Dokument gerade auseinander falten wollte, klingelte ihr Handy und sie erschrak heftig. Alex, dachte sie. Dann wurde ihr schlagartig klar, dass sie mit einem Anruf des Montana-Mädchens geradezu gerechnet hatte. Na ja, zumindest so halb gerechnet. Eigentlich gar nicht. Die Wahrscheinlichkeit dafür war verschwindend gering.
Am letzten Tag des Urlaubs war Cam einer spontanen Eingebung gefolgt. Sie hatte so getan, als habe sie ihre Schirmmütze im Big Sky liegen gelassen und ihre Eltern so dazu gekriegt, auf dem Weg zum Flughafen einen Umweg über den Erlebnispark zu machen. Der Wagen blieb mit laufendem Motor am Eingang stehen, während Cam zum Kassenhäuschen hinübergelaufen war und dem Mädchen am Schalter einen Zettel zugesteckt hatte. Sie hatte ihren vollständigen Namen, ihren Geburtstag, ihre E-Mail-Adresse, Telefonnummer zu Hause und die ihres Handys auf ein Stück Papier gekritzelt. Ohne ein Wort der Erklärung hatte sie es Alex hinübergeschoben. Alexandra. Das Mädchen, das ihr Gesicht hatte. Das Mädchen, mit dem sie ... was eigentlich ? Hexensprüche geflüstert, einen Unfall verhindert, eine Familie gerettet hatte ? Unmöglich, erinnerte sich Cam. Das war nie passiert. Nur ein weiterer seltsamer Vorfall in ihrem zunehmend abgefahrenen Leben. Und dennoch hatte sie auf Alex' Anruf
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