Finsteres Gold
sondern stützt sich nur auf zwei Krücken. Cassidy steht neben ihm.
Nicks Hand schließt sich in einem Klammergriff um meinen Unterarm. »Der Rollstuhl ist weg! Zara, der Rollstuhl ist weg!«
Er lässt mich los und springt mit einem Satz über das Geländer. Er umarmt Devyn und er wirbelt ihn im Kreis herum. Die Leute weichen zurück. Eine Krücke fällt von Devyns Arm und landet auf der Rampe. Issie hüpft über sie hinweg und stürzt sich in die Gruppenumarmung. Sie schreit vor lauter Glück.
Wir wussten, dass es so kommen würde, aber es tatsächlich zu erleben … ihn tatsächlich ohne seinen Rollstuhl zu sehen. Da bleibt einem fast das Herz stehen, so gut ist das Gefühl. Ich stapfe die Rampe hinauf und hebe im Vorbeigehen die Krücke auf.
»Kein Wunder, dass du heute nicht mitfahren wolltest«, sagt Issie gerade, während sie ihm unablässig auf den Rücken klopft. »Kein Wunder! Bist du selbst gefahren?«
»Nö. Cassidy hat mich mitgenommen.«
»Genau!«, wirft Cassidy ein und nestelt an ihrer rosa Glitzerspange.
»Sie … sie hat dich mitgenommen?«, platzt es aus Issie heraus.
»Ja, Is. Ich wollte euch alle überraschen.« Devyn lächelt mich an. »Was sagst du dazu, Zara?«
Während ich ihm seine Krücke reiche, sage ich: »Ich glaube, das ist das Schönste, was ich in meinem ganzen Leben je erlebt habe.«
Und so ist es.
»Jetzt kann ich endlich all die Dinge tun, die ich tun will.«
Das lässt mich aufhorchen. »Zum Beispiel?«
Devyn lächelt nur. Cassidy räuspert sich und nimmt ihn jetzt auch noch einmal in den Arm. »Ich freu mich so für dich, Dev.«
Issie ist zur Wand zurückgewichen und fasst sich an den Hals. Sie schaut weg.
»Danke«, sagt Devyn.
Sie lösen sich aus der Umarmung, und Cassidy fängt an, sich hinten am Nacken zu kratzen. »Ich wusste, dass es so kommen würde.«
Die Art und Weise, wie sie das sagt, lässt mich stutzen. Es klingt fast unheimlich, aber sie wirbelt davon, bevor ich etwas sagen kann.
»Wir sind alle spät dran«, sagt sie über die Schulter hinweg und kratzt sich immer noch. »Glückwunsch, Devyn! Lass es mich wissen, wenn ich dich nach Hause mitnehmen soll.«
Wir alle rennen in unsere erste Stunde. Einen kurzen Augenblick lang redet Nick nicht über Elfen und Schmerz oder darüber, dass er alle beschützen muss. Einen kurzen Augenblick lang hängen seine Schultern entspannt herab, und er lächelt. Und in diesem Augenblick wird mir klar, wie schwer dies alles für ihn ist.
Meine Augen füllen sich mit Tränen, aber ich weiß nicht genau, warum. Wahrscheinlich will ich einfach nur, dass Devyn nie wieder verletzt wird. Ich will, dass keiner von uns jemals wieder verletzt wird.
Spanisch war früher meine meistgehasste Unterrichtsstunde. Nicht weil der ganze Raum nach dem Fliederparfüm unserer Lehrerin stinkt und meine Nase immer sofort zu ist, sondern wegen einem Mädchen, Megan. Sie saß schräg vor mir, drehte sich aber dauernd um und warf mir böse Blicke zu. Dann flüsterte sie ihrer Freundin Brittney etwas zu, und die beiden kicherten wie Hexen. Obwohl sie nicht mehr an unserer Schule ist, kommt es mir immer noch vor, als würde ich ihre Anwesenheit spüren.
Ich atme aus, kaue auf meinem Füller herum und stelle eine Liste zusammen:
ILLEGALE DINGE, DIE WIR GETAN HABEN,, UND WARUM
Betty hat Ian getötet, weil er versucht hat, mich zu küssen und in einen Elf zu verwandeln.
Megan ist verschwunden, deshalb hat Mrs Nix ihre Entlassungspapiere gefälscht. Das ist okay, denn Megan war nicht einfach nur ein hinterhältiges Luder, sondern ein Elf.
Wir haben alle Elfen in ein Haus gesperrt, weil sie sonst weiter gemordet hätten.
Okay, die Liste ist nicht allzu lang, und das erleichtert mich ein bisschen, auch wenn sie Mord, Betrug und Freiheitsberaubung beinhaltet. Ich falte das Blatt zusammen und schiebe es hinten in meine Ausgabe von Das Geisterhaus. Dann übersetze ich weiter, aber eigentlich denke ich darüber nach, dass meine Großmutter getötet hat, dass ich die Elfen eingesperrt habe, und dass wir es hier mit einer ganzen Reihe von gewaltsamen Akten zu tun haben und dass ich keine Ahnung habe, wie ich damit umgehen soll. Ich bin bei Amnesty International. Die Menschenrechte sind mir keineswegs egal. Aber wie steht es mit den Rechten von Elfen? Sie sind in gewisser Weise Menschen. Und was tun, wenn die Welt keine Ahnung hat, dass es sie gibt?
Ich komme mit dem Buch überhaupt nicht voran, deshalb ziehe ich ein neues Blatt
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