Finsterherz
gefallen, wenn er dich erwischt, glaub mir.«
Mathias kletterte in die Kutsche und setzte sich auf den harten Ledersitz neben Häller.
»Und die Taschen?«, sagte Doktor Häller. »Vergiss die Taschen nicht.«
Mathias hatte sie draußen stehen lassen.
»Beeil dich lieber.«
Mathias kletterte aus der Kutsche, packte die Taschen und schob sie durch die Tür, aber halb drinnen verkeilten sie sich. Er konnte die Gestalt im Dunkel bei den Pferden deutlich erkennen. Er gab den Taschen einen letzten, verzweifelten Stoß; sie schossen durch die Tür wie ein Korken aus einer Flasche und das Geräusch von reißendem Segeltuch war zu hören. Häller packte Mathias am Kragen und zerrte ihn hinein, dann warf jemand von außen die Tür zu.
»Gut«, sagte Häller.
Die Kutsche schaukelte in ihrer Federung, als sei jemand auf den Bock geklettert und habe die Zügel genommen. Häller klopfte einmal kurz mit dem silbernen Knauf seines Gehstocks ans Dach. Es gab einen Ruck und die Kutsche setzte sich in Bewegung.
Im Zirkuswagen hielt Anna-Maria die Lampe hoch.
»Schau in der hier noch mal nach«, sagte sie.
Lutsmann war auf Händen und Knien damit beschäftigt, die Kisten mit den Zirkussachen zu durchsuchen.
»Hier ist nichts, was Gustav gehört hat«, sagte er.
»Nachschauen, Dummkopf!«
»Hier ist nichts, mein Lämmchen. Es ist alles weg.«
Das Stroh aus Gustavs Matratze war über den ganzen Fußboden verteilt. Auf Anna-Marias Anweisung hatte Lutsmann die Truhen ausgeräumt und den gesamten Inhalt im Stroh ausgebreitet.
»Dummkopf!«, wiederholte sie. »Esel!«
Sie trat ihm mit ihrem spitzen Schuh fest in sein dickes Hinterteil, sodass er mit dem Kopf voran in eine der offenen Kisten kippte.
»Wonach hat er gesucht?«
»Ich weiß es nicht, mein Täubchen«, erwiderte Lutsmann, als er wieder aus der Kiste auftauchte und sich Strohhalme aus Mund und Haaren klaubte.
»Was kann es nur gewesen sein?«
»Wir werden es nie erfahren, mein Herzblatt«, sagte Lutsmann.
Anna-Maria beugte sich zu ihm hinunter, packte sein Halstuch und zwirbelte es fest zu. »Oh doch, das werden wir«, zischte sie zwischen den Zähnen hindurch. »Was immer es war, es muss sehr, sehr viel wert sein und wir werden es finden.«
»Aber wie?«
»Männer, die so mit Goldmünzen um sich werfen können, verschwinden nicht einfach«, sagte sie in jenem Singsang, den sie für begriffsstutzige Idioten reserviert hatte. »Sie gehen irgendwohin und genau dahin werden wir auch gehen.«
»Aber wie?«
»Tölpel!«, rief sie und schlug ihn mit der Lampe. »Wir folgen ihm und dem Jungen. Vergiss den Jungen nicht. Er ist ein ganz Gerissener. Er weiß mehr, als er zugibt.«
Die Kutsche mit Doktor Häller und Mathias rollte durch die Nacht. Mathias hätte gern geschlafen, konnte aber nicht. Wenn er die Augen schloss, sah er Gustavs Gesicht vor sich, dessen Schminke abgewaschen war. Wenn es ihm gelang, dieses Bild zu verdrängen, sah er stattdessen, wie Gustav im flackernden Licht der Fackeln wieder und wieder von der Bühne stürzte.
Und da war noch etwas: Obwohl die ledernen Vorhänge der Kutsche zugezogen waren, wusste Mathias, wo sie waren. Sie befanden sich auf der Straße, die aus der Stadt hinaus und durch den dichten Wald führte. Dieselbe Straße, auf der er zuvor im Zirkuswagen hergekommen war.
Auch wenn du den Wald bei Dunkelheit nicht sehen kannst, so vermagst du ihn doch zu hören. Das kannst du wirklich. Ein Wald klingt unverwechselbar. Er dämpft Geräusche wie eine Decke aus Neuschnee, aber er riecht ganz anders. Selbst wenn du ihn nicht siehst, kannst du ihn riechen. Selbst wenn du ihn nicht hörst, kannst du das vermoderte Laub riechen und die feuchte Erde.
Mathias brauchte den Wald also nicht zu sehen, um zu wissen, wo sie waren. Er hörte die tödliche Stille ringsum. Und er hörte noch etwas anderes.
Er hörte Wölfe.
Sie folgten der Kutsche schon eine ganze Weile. Dessen war er sich sicher. Gelegentlich ertönte weit weg ein Bellen ähnlich dem eines Hundes, dann eines in der Nähe als Antwort. Wenn er ganz genau hinhörte, glaubte er, auch die Bewegungen der Tiere wahrzunehme n – das Geräusch ihrer Pfoten in Unterholz und Farn, ihren schnellen Lauf auf gleicher Höhe mit dem Gefährt.
In der Kutsche brannte eine kleine Nachtlampe, deren Docht so weit wie möglich heruntergedreht wa r – man sah ihn nur schwach glimmen. Im Licht dieses winzigen, leuchtenden Würmchens sah Mathias, dass Hällers Augen geschlossen waren. Sein Kopf
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