Finsterherz
schlug im Fahrrhythmus der Kutsche an die Lehne, so als schliefe er. Mathias wusste nicht, ob er tatsächlich eingenickt war. Falls ja, wollte Mathias ihn nicht wecken. Aber was würde geschehen, wenn er es nicht tat? Schließlich hielt er es nicht mehr aus. Er zog kräftig an Hällers Ärmel. Häller öffnete sofort die Augen.
»Da draußen sind Wölfe«, sagte Mathias.
Doktor Häller schloss die Augen wieder. »Das macht nichts«, sagte er.
»Wir müssen ein Feuer anzünden.«
»Wir brauchen kein Feuer.«
Mathias versuchte verzweifelt, ihm die Gefahr bewusst zu machen. »Aber sie werden die Pferde töten!«
»Sie werden die Pferde nicht töten«, entgegnete Häller leise, ohne die Augen zu öffnen. »Walter wird es verhindern.« Er klopfte wieder ans Dach.
Die Kutsche wurde langsamer. Dann hielt sie an. Aus dem Wald zu ihrer Linken kam ein Bellen, das von einem zweiten, weniger weit entfernt, aber auf der anderen Seite, beantwortet wurde. Dann noch eines. Überall ringsherum waren Wölfe. Die Kutsche schaukelte, als würde jemand absteigen, und mit einem Mal war ein Durcheinander von Geräuschen zu hören, so als packten die Wölfe etwas, um es zu zerreißen. Jeder von ihnen kämpfte offenbar um eine Gelegenheit, seine Fänge hineinzuschlagen. Mathias presste die Hände gegen die Ohren, musste aber trotzdem mit anhören, was draußen geschah: Ein Tier jaulte von entsetzlichen Schmerzen gepeinigt, doch sein Gewinsel endete abrupt. Dann ertönte dasselbe Geräusch noch einmal, und plötzlich brauste es um die Kutsche, wie wenn der Wind durchs Gestrüpp fährt: Da waren ein Rennen, ein Jaulen und Bellen, als seien die Wölfe nur Dorfköter, die jemand mit der Peitsche vertreibt. Danach Stille. Vollkommene, unbegreifliche Stille.
Mathias drehte den Kopf von einer Seite auf die andere und lauschte. Noch einen Augenblick lang war alles totenstill. Dann wurde die Gepäckkiste hinten an der Kutsche geöffnet, und es hörte sich an, als würde eine lange Kette herausgezogen. Es folgten noch andere Geräusche. Die Kette klimperte und etwas wurde an der Kutschachse befestigt. Dann kletterte der Kutscher wieder auf den Bock. Mit einem kleinen Ruck setzte sich die Kutsche in Bewegung. Aus der Ferne ertönte ein lang gezogenes, klagendes Heulen, dann war alles ruhig.
»Du kannst jetzt schlafen«, sagte Häller. Er beugte sich vor und löschte das Licht mit den Fingern. »Die belästigen uns nicht mehr.«
Mathias saß mit großen Augen in der Dunkelheit. Er wusste nicht, was ihm von Schattenfleck zu Schattenfleck gefolgt, was im Finstern von der Kutsche geklettert war, aber er wusste, es war ein und dasselbe. Und er spürte tief in den Knochen, dass er sich davor fürchten musste.
Es hatte sogar einen Namen: Walter.
Er konnte sich nicht daran erinnern, eingeschlafen zu sein. Als er die Augen öffnete, war heller Tag. Er war allein in der Kutsche, die Tür stand offen. Er hörte Hühner im Dreck scharren. Irgendwo ganz in der Nähe krähte ein Hahn und schlug mit den Flügeln. Ein Mädchen lugte durch die offene Tür. Jetzt war klar, wer ihn geweckt hatte. Es stupste seinen Stiefel an und zog dann die Hand weg, als fürchtete es, er könnte beißen.
»Bist du der Gehilfe?«, fragte das Mädchen. »Du musst mitkommen. Er wartet.«
Noch schlaftrunken stieg Mathias aus der Kutsche. Es war so hell, dass er die Augen zusammenkneifen musste. Sie hatten in einer ungepflasterten Straße vor einem kleinen Gasthaus angehalten. Hühner pickten zwischen den Rädern auf dem Boden herum. Ein paar Leute standen da und musterten ihn und die Kutsche. Frost hing in der Luft. Bei Tageslicht erschienen die Pferde noch größer als bei Nacht. Riesig und schwarz. Auch die Kutsche war schwarz wie Tinte. Doch die Leute betrachteten außer ihm selbst noch etwas anderes. Mathias drehte sich um und zog scharf die Luft ein.
Hinter der Kutsche lagen die Kadaver der beiden größten Wölfe, die er je gesehen hatte. Jeder von ihnen hatte eine Kette um den Hals, mit der ihn jemand an die Kutsche angebunden hatte. Beide waren so groß wie Ponys. Und sie waren mausetot, die Kehlen herausgerissen.
Die Leute traten zurück und machten ihm Platz, als er zur Tür ging. Das Mädchen lief vor ihm her. Es hielt Abstand, vergewisserte sich aber mit einem Blick über die Schulter, dass er ihm folgte.
Im Gasthaus war es dunkel. Es roch nach dem Holzfeuer des vergangenen Abends, nach Bier und scharf gewürzten Würsten. Ein Mann fegte den Boden, hielt aber
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