Finsterherz
auf die Stelle, an der Gustav zum Schlafen seine Strohmatratze ausgerollt hatte. So schliefen sie all e – auf Strohmatratzen, die tagsüber in Netzen unter der Wagendecke verstaut wurden.
Häller hob die Lampe, um besser sehen zu können. »Hol seine Sachen herunter«, befahl er. »Und deine auch.«
»Ich habe keine«, sagte Mathias.
»Dann hol seine.«
Während Mathias sich reckte, um das Bündel auszuhängen, hielt Häller die Lampe an jene Stelle der Holzwand, vor der Gustav geschlafen hatte. Aufmerksam schaute er in jeden Spalt und jede Holzritze. Die Matratze kullerte aus dem Netz. Häller hängte die Lampe wieder an den Haken, schraubte den Knauf von seinem Gehstock und zog die lange Stahlklinge heraus. Mit einem Schnitt durchtrennte er den Sack aus Segeltuch und schüttelte das Stroh auf den Boden. Dann verteilte er es mit dem Fuß, als suchte er nach etwas, was darin versteckt worden sein könnte. Aber da war nichts.
»Hol die Taschen«, befahl er.
Mathias hob sie auf.
»Und mehr hatte er nicht?«
Mathias schüttelte den Kopf.
»Keine geheimen Verstecke?«
Wieder schüttelte er den Kopf.
»Wo hatte er sein Geld?«
»Er besaß kein Geld.«
Gustav hatte nie Geld gehabt, oder wenn er welches besessen hatte, hatte Mathias es zumindest nie gesehen.
Häller steckte die Klinge zurück in seinen Gehstock. Er drehte die Lampe wieder herunter und wandte sich zur Tür.
»Wohin gehen wir?«, fragte Mathias.
»Auf eine kurze Reise«, antwortete Häller.
Die Taschen waren umständlich zu tragen. Bis Mathias den Fuß der Treppe erreicht hatte, war Häller nur noch eine schwach erkennbare Gestalt in der Dunkelheit.
»Was passiert jetzt mit meinem Großvater?«, rief er.
Die Gestalt blieb stehen.
»Wenn du jetzt nicht mitkommst, Junge«, sagte Häller, »wird dir etwas sehr Schlimmes zustoßen.«
In der Dunkelheit hinter Mathias bewegte sich etwas. Er sah es aus den Augenwinkeln. Er drehte sich um, konnte jedoch nichts erkennen. Aber da war etwas. Er hörte es deutlich. Es kratzte mit spitzen Fingernägeln über die hölzerne Seitenwand des Wagens. Er fühlte sich plötzlich allein und hatte große Angst. Rasch blickte er hinüber zu den Lichtern der Schenke. Sie waren zu weit weg, als dass er einfach hätte hinüberlaufen können.
»Etwas sehr Schlimmes«, flüsterte eine Stimme dicht an seinem Ohr.
Er wirbelte herum, sah aber noch immer niemanden. Etwas zupfte an seinem Jackenärmel. Er versuchte es abzuschütteln. Ein Wimmern formte sich in seiner Kehle.
»Komm, Junge!«, rief Häller aus der Dunkelheit.
Mathias blieb nichts anderes übrig. Er hob die Taschen auf und lief, so schnell er konnte, hinter der entschwindenden Gestalt von Doktor Häller her. Sich noch einmal umzuschauen, wagte er nicht.
Die Straße durch den Wald
An den Ecken der schmalen Straßen brannten Laternen. Es war spät geworden und ziemlich dunkel. Andere Menschen waren nicht unterwegs. Häller ging so schnell, dass seine langen schwarzen Frackschöße hinter ihm herflatterten. Mathias versuchte mit ihm Schritt zu halten, aber es gelang ihm nur mit großer Mühe. Die Taschen waren schwer und schlugen ihm beim Laufen immer an derselben Stelle in die Kniekehlen, sodass diese bald wund gescheuert waren. Jedes Mal wenn er innehielt, um Atem zu schöpfen, glaubte er, hinter sich in der Dunkelheit andere Schritte zu hören, jemanden, der dann ebenfalls stehen blieb und wartete. Wenn er weiterging, lief auch dieser Jemand weiter. Nur einmal wagte er es, sich umzuschauen, und erspähte eine Gestalt, klein wie ein Kind, aber breitschultrig und stämmig, die aus dem Licht der Laterne zurück in den Schatten trat.
Endlich blieb Häller stehen. Unter einer der Ecklaternen wartete eine niedrige schwarze Kutsche. Die beiden Pferde waren seltsam ruhi g – sie schüttelten nicht den Kopf, wie es Pferde sonst zu tun pflegen, oder kauten auf ihrer Trense herum. Sie blieben unbewegt wie Statuen. Sie drehten nicht einmal den Kopf, als Häller die Kutschtür öffnete und einstieg. Mathias stellte die Taschen neben der Kutsche auf die Straße und überlegte. Er wollte nicht einsteigen, doch als er sich umblickte, war da wieder die fremde Gestalt, die gebückt und mit kleinen Schritten zwischen den Laternen von einem Schattenfleck zum anderen huschte. Und sie kam näher. Häller beugte sich vor, steckte die Hand durch die offene Tür und winkte Mathias mit gekrümmtem Finger heran.
»Steig ein, Junge. Es würde dir ganz bestimmt nicht
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