Finsterherz
wieder und wieder durchlebt hatte, fiel von ihr ab wie dünnes Papier, denn mehr waren ihre früheren Wunschträume nicht, und sie blieb mit einem wirklichen Messer und einem wirklichen Jungen zurück. Wie konnte sie das bloß tun? Es war ein so großes Unrecht. Aber was er ihr angetan hatte, war auch unrecht gewesen. Allerdings hatte er damals gar nicht gewusst, was er angerichtet hatte. Aber er hatte den Stein geworfen. Er hatte jemanden verletzen wollen und sie war das Opfer gewesen. Er hatte es getan.
Sie saß reglos da, während sich die Gedanken in ihrem Kopf jagten. Einer davon gewann langsam die Oberhand und schob alle anderen beiseite. Sie hatte geschworen, dass sie es tun würde, sollte sie ihm je wieder begegnen. Es wäre wie ein uneingelöstes Versprechen, wenn sie es unterließe. Sie stünde als Feigling da. Dass es ein Unrecht war, spielte keine Rolle. Sie hatte es geschworen, also würde sie die Tat auch vollenden.
Leise stellte sie die Füße auf den Boden und erhob sich lautlos vom Bett. Ganz langsam schlich sie auf ihn zu. Das Feuer im Kamin flackerte und ihr Schatten breitete sich lang hinter ihr aus. Sie beugte sich vor und streckte eine Hand aus, um die Pistole aus seinem Schoß zu nehmen, doch seine Hand lag darauf. Sie zögerte und ging dann um den Stuhl herum, sodass sie schließlich hinter ihm stand. Dann hielt sie die Hand über seinen Kopf und senkte das Messer, bis die Klinge auf der Höhe seiner Augen war. Sie spürte, wie ihr Herz hämmerte; sie zitterte.
»Katta! Nein!«
Mathias hatte sich im Bett aufgesetzt. Er war wach und starrte sie mit großen Augen an. Als Stefan mit einem Ruck den Kopf hob und die Augen öffnete, wollte Katta die Klinge darüberziehen. Doch sie hatten sich beide bewegt und die Klinge fuhr in seine Stirn, drang bis zum Knochen ein, und als er aufsprang, war plötzlich überall Blut.
»Katta!«, rief Mathias noch einmal.
Sie stand da und blickte ungläubig auf das Messer in ihrer Hand. Erst jetzt wurde ihr richtig bewusst, was sie getan hatte. Stefan hatte die Hände vors Gesicht geschlagen; zwischen seinen Fingern quoll Blut hervor. Er sah nicht s – er stolperte gegen den Tisch und stürzte. Mathias sprang blitzschnell aus dem Bett, den Arm fest an die Brust gepresst; er musste vor Katta bei Stefan sein. Sein Gesicht war weiß vor Entsetzen.
»Was hast du getan?«
Stefan wimmerte. Er drückte sich ans Bett, versuchte möglichst weit wegzurücken von Katta, doch die rührte sich nicht. Das Messer fiel ihr aus der Hand. Was hatte sie getan? All der ohnmächtige Hass, der sich über Jahre in ihr aufgestaut hatte, brach jetzt aus ihr heraus.
»Er hat mir etwas getan!«, rief sie, die Augen voller Tränen.
Mathias blickte verständnislos zu ihr auf.
»Das!«, rief sie, packte ihre Haube, zog sie sich vom Kopf und schleuderte sie ihm mit aller Kraft entgegen. Ihr Haar leuchtete rot im Feuerschein.
»Das hat er mir angetan«, rief sie. »Er war’s!«
Sie tippte mit dem Finger an die Stelle an ihrem Kopf und scheitelte das Haar, damit er den Knochen sehen konnte.
»Das! Das war er!«
Mathias verstand gar nichts. Sie hatte ihm vorher nie etwas von ihrer alten Verletzung erzählt. Verwirrt blickte er zu dem Jungen. Überall war Blut.
Katta fasste sich mit beiden Händen an den Kopf und rannte los. Die Zimmertür war verriegelt; sie schob den Riegel zurück und riss sie auf. Sie wusste nicht, wohin sie sollt e – beinahe blind rannte sie durch die schmalen Gänge, mal nach rechts, mal nach links, ohne etwas zu sehen, ohne anzuhalten, bis sie um eine Ecke bog, ins Halbdunkel spähte und erstarrte.
Vor ihr, am Ende des Ganges, kletterte Walter gerade durch ein Fenster herein.
Ein Schrei entfuhr ihr, den sie sofort erstickte. Aber es war zu spä t – dieser eine Schrei genügte. Er war schon halb durchs Fenster, da drehte er den Kopf und sah sie direkt an.
Sie machte auf dem Absatz kehrt und rannte den Weg zurück, den sie gekommen war, doch sie war sich nicht sicher, ob es der richtige war. Da vorn, die schmale Trepp e – war sie die heruntergekommen? Sie wusste es nicht mehr. Sie nahm immer zwei Stufen auf einmal, lief den Gang hinunter und rief dabei, so laut sie konnte: »Mathias! Mathias!«
Die Tür zu dem Zimmer stand immer noch offen; sie stürmte hinein, warf sie hinter sich zu und schob den Riegel vor. Stefan saß jetzt mit einem zusammengeknüllten Tuch am Kopf da. Mathias drückte es fest gegen die Wunde und versuchte das Blut zu stillen.
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