Finsterherz
den noblen Häusern auf dem Hügel hinaufgestiegen, wo der Palast des Herzogs stand und die große Kirche des Engels von Felissehaven über die Stadt wachte.
Nachdem sie eingelassen worden waren, hatte man sie in der marmornen Halle allein gelassen; hier warteten sie nun. Das Glockengeläut war auch hier drinnen noch zu hören. Das Licht des frühen Morgens flutete durch breite, hohe Fenster herein und ließ das Gold noch heller strahlen und die Gemälde noch farbenprächtiger aussehen.
»Ist das wirklich das richtige Haus?«, fragte Lutsmann verunsichert.
Bevor Anna-Maria ihn einen Dummkopf schelten konnte, ging eine Tür am Ende der Halle auf und ein Mann kam heraus. Aber es war nicht Doktor Häller, sondern ein Bediensteter, der sie zu ihm bringen sollte. Sie folgten dem Mann über den Marmorboden der Halle und eine breite Treppe hinauf. Porträts streng aussehender Männer blickten auf sie herab. Ein großer Kronleuchter hing an einer vergoldeten Kette. Plötzlich fühlte sich Anna-Maria nicht mehr so selbstsicher wie sonst; nicht so selbstsicher wie vorhin in ihrem Wagen, als sie mit Mathias fertig gewesen war und zum ersten Mal darüber nachgedacht hatte, was sie als Nächstes tun könnten. All dies war sehr viel großartiger, als sie erwartet hatte. Aber sie tröstete sich mit dem Gedanken, dass sie Häller schließlich nicht zum ersten Mal begegnete. Sie war damals mit ihm fertig geworden und sie würde wieder mit ihm fertig werden. Trotz allem war ihr nicht wohl. In Häusern wie diesem wohnten nur einflussreiche Leute und einflussreiche Leute waren gefährlich.
Der Mann blieb vor der Tür stehen. Er klopfte, öffnete, ohne eine Antwort abzuwarten, und führte Anna-Maria und Lutsmann hinein. Dann machte er eine kleine Verbeugung, ging wieder hinaus und schloss die Tür hinter sich.
Der Raum war so prächtig wie alles, was sie bisher gesehen hatten. Doktor Häller saß an einem großen Tisch in der Mitte, die Fingerspitzen beider Hände vor den Lippen aufeinandergelegt. Er war bei seinen morgendlichen Geschäften unterbrochen worden. Er musste den Gottesdienst besuchen und dann die Prozession des Herzogs. Aber diese Angelegenheit hier war wichtig. Er beobachtete die Eintretenden und schwieg, bis die Tür geschlossen worden war.
»Was führt dich hierher, Zirkusmann?«, fragte er.
Anna-Maria begann zu schluchzen. Sie betupfte ihre Augen mit einem Taschentuch. »Es ist wegen des Jungen«, flüsterte sie. »Was ist aus dem armen Jungen geworden?«
Hällers Gesicht hätte genauso gut aus Stein gemeißelt sein können, sein Ausdruck verriet nichts. »Warum willst du das wissen?«
Anna-Maria wollte wissen, warum das Papier von so großer Bedeutung war, und in diesem Punkt hatte sie Häller etwas voraus: Sie hatte den Jungen. Aber das würde sie ihm nicht verraten. Sie gab sich scheinbar alle Mühe, um ihre Tränen einigermaßen unter Kontrolle zu bringen. Lutsmann führte sie zu einem Stuhl und sie setzte sich.
»Wir haben gehört, dass er verschwunden is t – das Lämmchen.« Sie schniefte. »Wir dachten, wir könnten Euch vielleicht helfen, ihn wiederzufinde n – er ist wie unser eigen Fleisch und Blut. Wir wissen die eine oder andere Kleinigkeit über ihn, die Euch beim Suchen vielleicht weiterhelfen könnte.«
Hällers Miene veränderte sich nicht. »Zum Beispiel?«, fragte er kühl.
»Ach, ein paar Einzelheiten.« Sie betupfte erneut ihre Augen. »Was er uns so über Gustav erzählt hat.« Als sie diesen Namen nannte, fixierte sie Häller durch das Lochmuster der Taschentuchspitzen. »Nur Kleinigkeiten.«
Lutsmann legte beruhigend einen Arm um ihre Schultern. Er wusste, was von ihm erwartet wurde.
»Kleinigkeiten«, wiederholte Häller wie zu sich selbst. »Da frage ich mich doch, wie klein?«
Auf dem Tisch neben ihm stand ein grünes, mit Leder bezogenes Kästchen. Er öffnete den Messingverschluss, klappte den Deckel auf und setzte die Puppe Marguerite vor sich hin. Sie hob den hübschen Kopf und blickte zu ihm auf, als er die beiden Karten auslegte, zuerst die blaue, dann die rote.
Mathias hatte Anna-Maria vieles gesag t – dafür hatte sie gesorgt. Aber alles hatte sie nicht erfahren. Ein paar Dinge waren ihr verborgen geblieben. Marguerite gehörte dazu.
Anna-Maria schaute die Puppe an, dann Lutsmann. »Uh-hu-hu«, schluchzte sie und führte das Taschentuch erneut zu den Augen.
»Warum seid ihr hergekommen?«, fragte Häller.
»Ach, Doktor Häller«, flüsterte Anna-Maria, »wir
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