Finsterherz
über der erwachenden Stad t – laut und misstönend. Mit jeder Minute, die verging, kamen mehr hinzu, bis die Luft erfüllt war von ihrem Geläut. Es gab keine Zimmerecke, keinen Eimer im Hof, den ihr Klang nicht erfüllte.
Katta hatte nicht geschlafen. Sie hatte gesehen, wie der Tag langsam und schleichend anbrach, hatte die allerersten Glocken gehört, doch dies schien ihr jetzt bereits Stunden her zu sein. Sie stocherte in ihrem Essen herum, das dampfend heiß in der Schüssel vor ihr stand, aber sie brachte keinen Bissen herunter.
Als König am Abend zuvor ins Gasthaus zurückgekommen war, hatte er nur Stefan am Feuer vorgefunden. Katta war ihm beinahe auf dem Fuße gefolgt und hatte sich schon gefreut auf das, was kommen würde. Doch das Erhoffte traf nicht ein.
Mathias war nicht da. Sie waren sofort wieder hinausgegangen auf die Straße, König mit einer brennenden Teerfackel, die ihnen leuchtete. Doch wo sollten sie anfangen? Wohin sie sich auch wandten, überall waren Männer mit Karnevalsmasken und Frauen mit Federgesichtern unterwegs. Sie spähten in die leeren, dunklen Gassen, in die sich die Feiernden nicht trauten, aber Mathias fanden sie nicht. Während sie die Straßen absuchten, überzog sich der Himmel mit den Lichtkaskaden explodierender Feuerwerkskörper. Dann war auch das Feuerwerk vorbei und nach und nach schlenderten die Leute davon, bis die Straßen leer waren, aber Mathias blieb verschwunden. Schließlich mussten sie einsehen, dass sie nichts weiter tun konnten, als zum Gasthaus zurückzukehren und am Morgen noch einmal von vorn zu beginnen. Außerdem bestand ja auch noch die Hoffnung, dass Mathias inzwischen den Weg zum Gasthaus gefunden hatte und dort auf sie wartete. Aber dem war nicht so.
Danach hatte es Vorwürfe gehagelt.
Jetzt saßen sie schweigend über ihren Schüsseln.
»Wir beginnen dort, wo wir gestern Abend zuletzt waren«, sagte König. »Ich gehe in die eine Richtung und ihr zwei in die andere.«
Katta hatte nicht die geringste Ahnung, was in König vorging. Ob er nur daran dachte, dass er Mathias zu Jakob bringen musst e – was jetzt unmöglich war? Oder machte er sich tatsächlich Sorgen, dass dem Jungen etwas passiert sein könnte? Sie wollte gar nicht erst darüber nachdenken. Ihr war schlecht. Wenn sie nicht im Bären geblieben wäre, wäre das alles nicht passiert. Sie blickte kurz zu Stefan. König bemerkte es und drohte ihr mit dem Finger, als könnte er ihre Gedanken lesen.
»Dieses Mal bleibst du bei ihm«, sagte er. »Dieses Mal tust du, was man dir sagt.« So Furcht einflößend hatte er noch nie ausgesehen. Jetzt war nicht die Zeit, sich mit ihm anzulegen.
»Solange er mir nichts tut«, erwiderte sie. »Sag ihm, dass er mir nichts tun darf. Sag es ihm so, dass er sich nicht traut. Sag ihm, er darf mich nicht anrühren.«
Einen Augenblick lang schwieg König. Dann wandte er sich an Stefan. » Ne tzima loy «, sagte er. » Dash jah? «
Stefan blickte sie von unten herauf an; aber selbst er wagte es nicht, jetzt ein falsches Wort zu riskieren. Er nickte. » Dash jah. «
Aber es klang so, als fiele ihm schwer zu tun, was verlangt wurde. » Ne tzima loy. «
Anna-Maria und Lutsmann saßen in einer herrschaftlichen Eingangshalle und warteten. Lutsmann betrachtete staunend die vergoldeten Ornamente und Möbel. Die Augen fielen ihm fast aus dem Kopf. Anna-Maria, kurzzeitig aus der Fassung gebracht, saß sehr still neben ihm. Einen solchen Prunk hatten sie ganz und gar nicht erwartet.
Als sie sich auf den Weg gemacht hatte n – Mathias lag gefesselt und geknebelt in ihrem Wage n –, hatten sie angenommen, sie würden Häller in einem kleinen Haus in der Stadt finden. In einem jener Gebäude, zu deren polierter Tür ein paar Steinstufen hinaufführten und die außen einen Glockenzug aus Messing hatten. Und jetzt so etwas. Es war ihnen gar nicht wohl dabei, die Säulen und Gemälde an Decke und Wänden zu betrachten. Doch Häller hatte gesagt, dass man ihm hier Bescheid geben solle. Sie hatten nach dem Weg gefragt, sodass eine Verwechslung ausgeschlossen war.
Als sie durch die Stadt gegangen waren, hatten die Glocken geläutet und die Straßen waren fast menschenleer gewesen. Die wenigen Leute, die schon unterwegs gewesen waren, hatten sich für den Kirchgang herausgeputzt und ernst dreingeblickt. Das Fest des Engels war eine sehr viel ernstere Angelegenheit als das Chaos der vergangenen Nacht. Sie waren durch die Straßen der Unterstadt gegangen und dann zu
Weitere Kostenlose Bücher