Finsterherz
auf und verschwand durch die Tür. Sie verharrte kurz auf der obersten Treppenstufe und drehte sich noch einmal zu ihm um.
»Beeil dich lieber«, sagte sie. »Möglich, dass sie gleich wieder zurückkommen.«
Er hörte sie die Treppe hinuntergehen und dieses Mal kam sie nicht zurück.
Anna-Maria hatte ihn so weit in die Ecke geschoben, wie es ging, und die Fesseln sehr fest angezogen. Als das Blut langsam wieder in Mathias’ Hände und Füße floss, fühlte es sich an, als würden sie brennen. Jede Bewegung schmerzte. Langsam löste er sich aus seiner verkrampften Haltung, bis er auf dem Rücken lag und zur Wagendecke hinaufschaute. Aber er durfte sich nicht ausruhen. Estella hatte Recht. Anna-Maria und Lutsmann konnten jeden Augenblick zurückkommen. Wenn er floh, würden sie sicherlich denken, er hätte das Geld gestohlen. Aber wenn er blieb? Eine zweite Chance würde er nicht bekommen. Er zog sich auf die Beine und der Wagen schwankte um ihn herum, so schwindelig war ihm. Er streckte eine Hand aus und lehnte sich an den Türrahmen, damit er das Gleichgewicht nicht verlor. Dann kniff er die Augen vor der hellen Morgensonne zusammen und wankte wie ein alter Mann die Treppe hinunter.
Stefan hatte König sein Wort gegeben, dass er Katta nichts tun würde. Aber Wort zu halten war nicht Stefans Stärke. Wer ihn kannte, hoffte, niemals auf ihn angewiesen zu sein.
Da war Katta und da war seine Gelegenheit. Es wäre so einfach. Es gab genügend dunkle Gassen. Er konnte sagen, dass Katta plötzlich verschwunden se i – aber er wusste, dass König ihm das nicht abnehmen würde. Und Mathias würde er trotzdem noch suchen müssen. Aber wenn er Mathias fand, konnte er Katta vielleicht verschwinden lassen.
Als könnte sie seine Gedanken lesen, hielt Katta Abstand von ihm. Sie ließ ihn niemals hinter sich gehen. Sie achtete darauf, dass sie immer wusste, wo er war. Ab und zu bog er in eine Seitengasse ein und machte ihr Zeichen, ihm zu folgen, aber sie blieb zurück. Sie wartete und ließ ihn alleine ein paar Schritte hineingehen und nachsehen. Er war für ihren Geschmack immer zu schnell wieder zurück und ihr kamen jedes Mal Zweifel, ob er sich überhaupt richtig umgesehen hatte.
Aber das hatte er, denn sein Entschluss war gefasst.
Er würde Mathias finden und dann würde er mit diesem Mädchen, das ein Messer über sein hübsches Gesicht gezogen hatte, abrechnen, selbst wenn er damit sein Wort gegenüber König brach. Er musste nur gut überlegen, wie er es anstellen würde.
Außerdem wäre es nicht das erste Mal, dass er ein Versprechen, das er König gegeben hatte, nicht einhielt. Darin hatte er jede Menge Übung. Der Grund dafür lag in seiner besonderen Beziehung zu König, die Mathias schon aufgefallen war, die dieser aber nicht zu deuten gewusst hatte. Sie gab Stefan die Freiheit, sich so viel herauszunehmen. Die Lösung des Rätsels war einfach: Stefan war Königs Bruder.
Deshalb war er auch mitgekommen. Es war seine letzte Chance, König zu beweisen, was in ihm steckte. Es war nicht leicht, im Schatten eines solchen Mannes zu leben. König, der das große Pferd ritt. König, der alles besaß, was Stefan fehlte. König, der kämpfen konnte. König, der nie Angst hatte. König, den alle mochten oder zumindest respektierten. Es war, wie im Schatten eines Gebirges zu leben und nie die Sonne zu spüren.
Aber jetzt war Stefans Chance gekommen. Und was hatte er getan? Er war eingeschlafen, als er hätte wachen sollen. Der Junge war verschwunden, weil er davongelaufen war. König wusste das. Natürlich wusste er das.
Doch in Stefans Augen war nichts von alledem seine Schuld. Die Schuld trug nur eine Person: Katta. Es war nicht nur das Messer, auch wenn das schon gereicht hätte. Es war auch alles andere.
Den ganzen Morgen, während die Glocken läuteten, suchten sie die Straßen der Unterstadt ab. Anfangs hielt Katta immer wieder Leute an und fragte, ob sie einen Jungen gesehen hätten, aber die meisten zuckten nur die Schulter n – wenn sie überhaupt stehen blieben. Ein Straßenjunge sah doch aus wie der andere. Irgendwann gab sie es auf zu fragen. Sie spähte in Toreingänge und suchte hinter den Müllbergen am Straßenrand, aber es war aussichtslos. Es gab nirgendwo eine Spur von ihm.
Irgendwann hatte Stefan gerufen und war losgerannt, Katta hinterher; ihr Herz hatte wild zu hämmern begonnen, aber der Junge, den Stefan gesehen hatte, war nicht Mathias. Sie merkten es sofort, als er sich umdrehte und sie
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