Finsterherz
malt Buchstaben«, sagte Mathias.
»Nein«, widersprach König. »Schau.«
Die Flamme erreichte den Rand des Papiers, und als sie auf die Bank übersprang, loderte sie noch einmal kurz auf und erlosch. König ging mit der Kerze näher heran.
Was die Flamme sichtbar gemacht hatte, waren keine Buchstaben. Über beide Papierhälften waren die Umrisse eines Hauses gezeichnet, nach Art eines Grundrisses. Aber das war noch nicht alles. In einer Ecke der Zeichnung war ein kleines, schwarzes Kreuz zu erkennen.
Übers Eis
Die Flamme hatte die Hütte mit dem Duft von Honig und Harz erfüllt. Es war derselbe Duft, der in Gustavs Kleidern gehangen hatte, nachdem er seine verblüffenden Tricks vorgeführt hatt e – jene Zaubereien, die nur Mathias zu sehen bekam. Mathias hatte Gustav nur ein Mal danach gefragt, worauf Gustavs Hände sich wie ein Schraubstock um Mathias’ Hals gelegt hatten, bis er kaum noch Luft bekommen hatte.
»Wir wollen doch nicht gar zu schlau sein«, hatte er gesagt. Und Mathias hatte sich gehütet, noch einmal zu fragen, und so erfuhr er nie, was es mit dem Duft auf sich hatte.
Doch jetzt versetzte er ihn zurück in Lutsmanns Wanderzirkus, zu den geöffneten Vorhängen und dem Publikum, dessen Gesichter von den Fackeln erleuchtet wurden. Er blickte durch die Tür auf den mondbeschienenen Friedhof und erwartete halb, Gustav mit seinem weiß geschminkten Gesicht neben einem der Gräber auftauchen zu sehen. Aber draußen waren nur Dunkelheit und Stille.
Dann wurde ihm bewusst, dass König gerade etwas gefragt hatte.
»Wie hat die Flamme das bewirkt?«
Er konnte nur den Kopf schütteln. »Ich weiß es nicht.«
»Weißt du, was das ist?«
Mathias betrachtete die Linien auf dem Papier und schüttelte erneut den Kopf.
Stefan beugte sich vor, seine dunklen Augen schimmerten im Kerzenschein. » Kruzka? «, fragte er.
»Möglich«, erwiderte König.
»Was hat er gesagt?«, wollte Katta wissen.
»Eine Kirche«, antwortete König und sah sie an. »Es könnte eine Kirche sein.« Er fuhr die Linien mit dem Finger nach. »Das hier könnte das Hauptschiff sein oder der Altarraum.«
»Oder ein Garten«, sagte Katta. »Es könnten auch Mauern um einen Garten herum sein und ein Weg.« Ihre Augen waren ganz groß vor Aufregung. Es war, als hätte sie in der sicheren Erwartung von Reichtümern alles Gewesene vergessen. Sie blickte der Reihe nach in die Gesichter der anderen. »Es ist ein Schatz, nicht wahr?«, flüsterte sie.
Aber für Mathias ergab es immer noch keinen Sinn. Er sah nicht sie an, sondern König. Ihn interessierte nur, was König dachte.
König hatte seine Fingerspitzen befeuchtet, um die Kerze zu löschen, und Mathias hielt seinen Blick fest, nur kurz, aber es genügte. Was immer das Papier zeigen mochte, König ging genauso wenig wie er davon aus, dass es sich um einen Schatz handelte.
Sie verbrachten die Nacht in der Hütte. König weckte sie noch vor Sonnenaufgan g – nicht dass sie viel geschlafen hätten. Er wollte, dass sie weg waren, bevor irgendjemand zufällig das offene Grab von Gelein Merlevede bemerkte.
König hatte vor, auf den Hügel zu steigen und eine Stelle zu suchen, von wo aus sie die Stadt überblicken konnten. Es gab Plätze und Gassen, von denen aus man einen guten Ausblick auf die darunterliegenden Straßen und Dächer hatt e – sie waren am Tag zuvor an solchen Plätzen vorbeigekommen. Vielleicht entdeckten sie von dort aus einen Garten oder Hof, der dem Grundriss entsprach, den Gustav auf das Blatt Papier gezeichnet hatte. Es gab keine Garantie dafür, dass das gesuchte Gebäude überhaupt in der Stadt war, aber immerhin bestand die Möglichkeit.
»Und was ist, wenn es sich um den Grundriss eines Zimmers in einem Haus handelt?«, fragte Mathias.
»Dann sehen wir es nicht«, antwortete König.
» Kruzka «, sagte Stefan.
»Der Schatz ist bestimmt nicht in einer Kirche versteckt«, widersprach Katta.
Sie wollte nicht, dass Stefan Recht hatte. Aber König zog diese Möglichkeit in Betracht.
»Es kommt darauf an, was der Gegenstand ist«, meinte er.
Es gab genügend Kirchen, in die sie auf ihrem Weg in die Oberstadt einen Blick werfen konnten. In jeder von ihnen war es kalt und alle rochen intensiv nach Weihrauch. Von den dunklen Decken blickten vergoldete Engel herab und über jedem Altar hing die blaue und silberne Fahne des Herzogs von Felissehaven als Erinnerung daran, wo die irdische Macht la g – als ob eine solche Ermahnung nötig gewesen wäre.
In
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