Finsterherz
irgendwann doch zurückgegangen und hatte eine Satteltasche aus dem Stall gehol t – die von Stefan. Mehr brauchten sie nicht. Jetzt saß er mit der Tasche zwischen den Füßen. In der Ferne konnte er die Umrisse der Insel vor dem dunkleren Meer gerade noch erkennen. Der Priester hatte gesagt, dass vom Ufer aus Stufen in den Fels geschlagen worden seie n – die Kapelle stand abseits von den anderen Gebäuden auf den Klippen.
Was immer Gustavs Geheimnis war, dort würden sie es endlich lüften.
Katta war dicht bei Mathias. Die Hoffnung auf einen Schatz hatte sie ganz erfüllt, doch jetzt war sie sich nicht mehr so sicher. Was wäre, wenn Häller ihn versteckt hätte? Was, wenn es die ganze Zeit nur darum gegangen wäre? Nicht darum zu finden, was Mathias an sich genommen hatte, sondern sicherzustellen, dass es niemand sonst jemals fand? War Jakob deshalb umgebracht worden? Hatte Mathias ihr das sagen wollen?
Ein Gedanke jagte ihr einen eiskalten Schauer über den Rücken. Sie zupfte Mathias am Ärmel. »Was ist, wenn er weiß, dass wir es gefunden haben?«
Anstelle von Mathias antwortete König: »Er weiß es nicht, aber er muss mit dieser Möglichkeit rechnen.«
»Was wird er tun?«, fragte Katta.
König stand auf und nahm die Tasche. »Was würdest du tun?«
Mathias hatte dagesessen und zur Insel hinübergeblickt und genau über diese Frage nachgedacht. Er wusste die Antwort bereits. »Ich würde gehen und nachschauen«, sagte er leise.
»Dann sollten wir zusehen, dass wir als Erste dort sind«, meinte König.
Sie brauchten zwei Stunden. Während sie über das dicke Eis gingen, verblassten die Lichter von Felissehaven hinter ihnen, bis nur noch ein schwacher Schimmer davon zu sehen war. Als sie das Ufer erreichten, zündete König eine kleine Laterne an. Wenn man eine Klappe schloss, drang nur die Hälfte ihres Lichts nach außen.
Zunächst konnten sie die Stufen nicht finden. Erst nachdem sie in beide Richtungen an den Felsen entlanggegangen waren, entdeckten sie die Treppe, die sich in die Dunkelheit hinaufwand. König schloss auch die andere Klappe an der Laterne, und sie begannen die rauen, nassen Steinstufen hinaufzusteigen. Nur der Mond leuchtete ihnen auf dem Weg.
Es war ein schwieriger Aufstieg, für Mathias fast zu anstrengend. Doch oben kamen sie auf ebenes Gelände. Vor ihnen lagen als dunkle Silhouetten die nach oben offenen Ruinen des Klosters mit den halb eingebrochenen Mauern.
Am Rand der Klippen stand ein einzelnes Gebäude, die Fassade dem Meer zugewandt.
» Voy «, sagte Stefan und zog Mathias am Ärmel. » Kruzka .«
Schweigend gingen sie durch den ehemaligen Kreuzgang und suchten sich einen Weg zwischen den herabgefallenen Steinblöcken hindurch. In der Ferne hörten sie das gedämpfte Rollen der Wellen, die sich am Rand der Eisschollen brachen.
Hätten sie sich jetzt umgedreht und nach Felissehaven zurückgeschaut, wäre ihnen vielleicht das Licht aufgefallen, das in gleichmäßigem Tempo über das Eis auf sie zukam.
Die Tür zur Kapelle war verschlossen. Stefan umfasste den schweren Eisenring mit beiden Händen und drehte, aber nichts tat sich. Er stemmte sich mit seinem ganzen Gewicht gegen das Holz. Die Tür hielt stand. Erst als auch König mit der Schulter dagegendrückte, gaben die Angeln nach und sie ließ sich knirschend öffnen.
Drinnen war alles still. Ein Teil des Kapellendachs war eingebrochen. Ein einzelner Strahl Mondlicht fiel zwischen den Dachbalken hindurch auf den steinernen Fußboden. König öffnete die Klappen an der Laterne und hielt sie hoch. Es war, als kämen aus der Dunkelheit ringsum Engel herbeigeflogen, doch es waren nur Bilder auf dem Putz der Wänd e – die Gesichter und Flügel waren fleckig vom Salz und kaum noch zu erkennen.
König ließ die Satteltasche von seiner Schulter gleiten, legte sie auf den Boden und zog die beiden Zettel aus dem Mantel. Dann ging er mit der Laterne langsam an den Wänden entlang, vorbei an sämtlichen dunklen Erkern, die auf dem Papier eingezeichnet waren. »Hier sind wir richtig«, sagte er.
Bis dahin waren sie sich nicht sicher gewesen. Der Priester hätte sich auch täuschen können. Es hätte ein anderes Gebäude sein können oder eines in einer anderen Stadt. Aber seine Vermutung war richtig gewesen. Gustav hatte genau diese Kirche gezeichnet.
König hielt die Laterne höher, sodass ihr Licht auch noch in den letzten Winkel der Kapelle fiel.
»Da drüben ist es«, sagte er.
Es war nichts zu entdecken.
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