Firkin 05 - Fahrenheit 666
»Eure Fähren sind immer voll. Jedes Jahr gibt es eine anständige Seuche oder einige blutige Kriege … Über ein zu geringes Passagieraufkommen könnt ihr euch also wirklich nicht beklagen.« Wie er wußte, entsprach das sogar der Wahrheit. Je länger der Streik fortdauerte, desto mehr Seelen sammelten sich auf der anderen Seite des Flusses, und wenn man zusätzlich die Herdenkriege bedachte, die dort oben immer noch tobten, dann …
Kapitän Naglfar tat erneut einen Schritt vorwärts und packte Seirizzim an der schuppigen Kehle. »Meine Genossen und ich arbeiten bis zum Umfallen und leisten einen entscheidenden Dienst an der gesamten Unterwelt. Wir Fährmänner können uns kaum vor dem ständigen Ansturm der Seelen retten, die verzweifelt für den Transport Schlange stehen. Wir sind personell unterbesetzt und können den Anforderungen nicht mehr gerecht werden. Unsere Fähren sind überladen. Und dann die unzähligen Schäden von den ewig rein- und raustrampelnden Füßen! Die Reparaturrechnungen schießen in die Höhe!«
»Das ist wahr!« stimmte ihm ein Fährmann zu.
»Und dann die Dollen!« schrie ein anderer, der vor Wut fast überschäumte. »Hat mich nahezu zweihundert Obolen gekostet, als ich meine Dolle letzte Woche zur Reparatur gebracht hab!«
»Aber Charon hatte die Vereinbarung unterschrieben«, preßte Seirizzim mit erstickter Stimme heraus.
Kapitän Naglfar schrie, als wäre er mit einem rotglühenden Schüreisen gestochen worden: »So was nennst du eine Vereinbarung?« Ach, wie er das genoß! Hämisch grinsend ließ er Seirizzim wieder los und machte eine Reihe sehr anschaulicher Gesten, die zwei weiter hinten im Pulk stehenden riesigen Fährmännern galten. Binnen weniger Sekunden bahnten sie sich einen Weg durch die Menge und blieben mit einem greisenhaften Dämon, der zwischen ihnen baumelte, vor Seirizzim und Naglfar stehen.
»Charon!« schrie Naglfar der an allen Gliedern zuckenden weißhaarigen Gestalt direkt ins Ohr. »He, Charon! Kannst du mich hören?«
Als der greise Dämon unsicher den Kopf hob und »Hä?« krächzte, flimmerte ein rotes Glühen durch den grauen Star seiner jahrhundertealten Augen.
»Hallo, Charon! Es tut mir leid, daß ich dich damit belästigen muß, aber meine Brüder und ich von der Gewerkschaft der Unterweltfährmänner für das Diskutieren, Anschreien und Generell-stinksauer-sein, von der du ein Gründungsmitglied und Ehrenvorsitzender auf Lebenszeit bist, nun, wir haben uns eben gefragt, ob du uns wohl verraten könntest, was eine Inflation ist.«
»Was?« fauchten die fossilen Überreste des legendären Erfinders flammenfester Fischerboote.
»Inflation!« schrie Naglfar. »Kannst du uns sagen, was das ist?«
»Sprich lauter. Ich hör nicht mehr so gut!«
»Inflation!« kreischten Naglfar und die restliche Menge im Chor.
»Kein Grund zum Schreien!« fauchte Charon und blickte mit seinen vom grauen Star erkrankten Augen mürrisch in die Menge. »Natürlich weiß ich, was das ist. Ihr glaubt wohl, ich wäre senil, oder was? Ha! Ich kenne eure Sorte!«
»Nein, wir sind auf deiner Seite!« brüllte Naglfar mit sich überschlagender Stimme.
»Jaja, ich kenne euch! Dem alten Sack schnell ein paar Fragen stellen, bis er eine falsch beantwortet, und dann geht’s schwuppdiwupp direkt ins Irrenhaus, und schon ist er weg vom Fenster«, meckerte Charon. »Aber so leicht werdet ihr mich nicht los.«
»Was ist eine Inflation?« erinnerte ihn Naglfar.
»Ja, ja. Furchtbares Zeug. Ich kriege so was andauernd, schau nur!« Er streckte seine zitternden, von jahrhundertelangen Rudern aufgescheuerten Hände aus, die an den Gelenken entzündet und bereits dick angeschwollen waren.
»Nein, Charon. Das ist eine Infektion!«
»Ja, sag ich doch. Sieht schlimm aus, was? Ich weiß! Ha, deshalb könnt ihr mich noch lange nicht in die Klapsmühle stecken.«
Kapitän Naglfar wandte sich wütend ab und brüllte Seirizzim an: »Siehst du? Er hat jetzt keine Ahnung, worum es geht, und er hat auch schon damals keinen Ahnung gehabt!«
»Was meinst du damit? Daß Charon ein seniler …?«
Unzählige feindselige Schnaufer unterbrachen Seirizzim.
»Diese Vereinbarungen sind wertlos und verhindern, daß die Fährmänner den ihnen zustehenden Lohn erhalten! Selbst du hast nicht in Frage gestellt, daß es uns nicht an Fleiß mangelt. Fehlt also nur noch der gerechte Preis.«
»Gibt’s Reis?« krächzte Charon. »Ich möchte am liebsten heißen Reispudding.«
Kapitän Naglfar
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