Firkin 1: Der Appendix des Zauberers
… gingen vorbei.
Er horchte, bis ihn die Ohren schmerzten.
Reglos lag er da, eine Ewigkeit lang, wie es ihm schien. Dann atmete er aus, beruhigte sich wieder so weit, bis ihn nur mehr eiskalte Furcht im Griff hielt. Die Schritte hatten nicht angehalten. Vielleicht war es gar nicht hinter ihm her? Oder wartete es auf ihn? Er blieb noch für ein paar Minuten still liegen, bis er einen Zustand milder Panik erreicht hatte, und stand dann so leise wie möglich auf. Er strengte seine Augen aufs äußerste an und suchte nach irgendeinem Hinweis auf den oder das, dessen Schritte er gehört hatte. Nichts, keine Gefahr. Nachdem er sich davon überzeugt hatte, ging er, zunächst sehr vorsichtig, unbeschreiblich vorsichtig weiter.
Das alles lag jetzt Stunden zurück. Inzwischen war die Sonne aufgegangen. Der Himmel war klar, und die Vögel sangen. Gelegentlich zirpte eine Grille, und Firkin, der tapfere Held, unterwegs in edler Mission, erschrak wieder einmal fürchterlich.
Er bog um eine Kurve und blieb stocksteif stehen. Am Wegrand lag ein fester kleiner Schuh. In dem Schuh steckte so etwas wie ein kräftiger kleiner Fuß. Firkin war sich sehr sicher, daß dieser Fuß zu einem Körper und daß zu diesem Körper sehr wahrscheinlich noch ein zweiter Fuß gehörte. Doch das konnte er nicht sehen. Was immer es war, was da lag – es lag im hohen Gras am Wegrand verborgen und schnarchte laut in der kühlen Morgenluft. Firkin horchte auf die regelmäßigen Schnarchtöne und bedachte sorgfältig seine gegenwärtige Lage.
Es war eine Zwangslage: Der Pfad führte durch eine steile enge Schlucht. Die bemoosten hohen Wände hätten es selbst dem erfahrensten Kletterer unmöglich gemacht, seitlich um das Hindernis herumzuklettern. Wenn er zurückginge und einen Umweg suchte, dann käme er ohne Kompaß und Karte leicht vom Weg ab und fände möglicherweise nie wieder zurück. Es blieb nur eine Möglichkeit. Genaugenommen natürlich zwei … Aber zurück nach Hause, wo eine kranke Schwester und ein höchstwahrscheinlich sehr zorniges Elternpaar auf ihn warten und ihm Löcher in den Bauch fragen würden – diese Möglichkeit war nicht nach seinem Geschmack. Also entschied er sich dafür, geradeaus und um den Schläfer herum zu gehen (er tat es nur sehr ungern – der Adrenalinspiegel stieg wieder rapide an).
Um ihn nicht aufzuwecken, mußte er lediglich die Füße immer genau dann aufsetzen, wenn der Schläfer schnarchte. Also: schnarchen, auftreten … schnarchen, auftreten …
Er biß die Zähne zusammen und stakste auf Zehenspitzen voran. Wieder wuchs die Spannung, jeder Muskel schmerzte. Schnarchen, auftreten. Er wagte nicht, auf den Körper zu sehen, der links im Gras lag. Schnarchen, auftreten. Und so ging es weiter, geräuschlos beinahe – das Geschnarche übertönte jeden Laut. Schnarchen, auftreten.
Firkin war so nervös wie eine Schar Kopfschmerzen, die sich versehentlich in eine Apotheke verirrt hat. Am ganzen Körper zitternd schlich er durch die enge Schlucht, vorbei an dem Schläfer … nur der kleinste Schock noch, ein winziges Erschrecken, dann …
Plötzlich explodierte der Himmel: Flügel flatterten, Blätter wirbelten durch die Luft, eine Ringeltaube brach krachend durch das Blätterdach. Firkin erstarrte zur Salzsäule, die Adrenalinmaschine schaltete auf Overdrive.
Der Schläfer fuhr entsetzt auf, saß bolzengerade und schrie gellend: »Firk…!« Firkin klappte zusammen.
Hogshead stand auf, verwirrt und gleichzeitig ungeheuer erleichtert, daß sich seine schlimmsten Befürchtungen als unbegründet erwiesen hatten. Er ging an die Stelle, wo es Firkin umgeworfen hatte.
Im Bergkönigreich Cranachan ging das Jahr 1025 MEZ ohne größere Zwischenfälle vorbei. Ohne größere Zwischenfälle – das ist ein relativer Begriff. Das Leben in einer Tyrannei, vor allem das Leben in der Tyrannei, an deren Spitze König Erdrosselbart und seine finsteren Kohorten standen, war – im Vergleich zu jeder anderen Gesellschaftsform, in der annähernd normale Verhältnisse herrschen – alles andere als frei von größeren Zwischenfällen.
In den wenigen Monaten nachdem Fisk, Minister des Innern, widerstrebend die Entschuldigungen von Vizehauptmann Schikaneder angenommen und dann bereitwillig dessen Gesuch um Versetzung in den Ruhestand angenommen hatte, hatten sich in Cranachan etliche Zwischenfälle ereignet. Dreiundvierzig Kleinkriminelle waren wegen diverser kleinerer Delikte (vorsätzliche Mißhandlung, Verletzung
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