Firkin 1: Der Appendix des Zauberers
kleinen Tür am äußersten nördlichen Ende des Schlosses trat und endlich die Scheuern sah. Er machte sich daran, den Hof zu überqueren. Sie waren riesig, noch riesiger, als er sie sich vorgestellt hatte. In zwei Reihen standen sie, jeweils sechs einander gegenüber, und zwischen ihren Giebelseiten lag eine freie Strecke, die wie eine Straße auf das Nordtor zulief. Jede von ihnen war so groß, daß gut und gern zwei Zeppeline und ein halbes Dutzend Heißluftballone darin Platz gefunden hätten.
Es war eindrucksvoll.
Er ging weiter und näherte sich schließlich, nach einem Marsch, der ihm ziemlich lange vorkam, der ersten Scheuer. Die Eingangstore hingen in Laufschienen und waren beinahe so hoch wie die Frontmauern. Und wirkten ungeheuer schwer. Als er näher kam, entdeckte er zu seiner großen Erleichterung, daß in diese gigantischen Türen eine kleinere, etwa mannshohe Tür eingelassen war.
Klein kam er sich vor, sehr klein, als er vor diesem Scheunentor stand. Und wieder überschlugen sich die Gedanken in seinem Kopf, als er sich vorstellte, welche Mengen hinter dieser Tür verborgen lagen. Er streckte die Hand aus, drehte den kleinen Türknopf und trat in den dunklen, unendlich weiten Raum. Das war der Augenblick, auf den er gewartet hatte. Mit geschlossenen Augen stand er da, und erst nachdem er sich auf die Dunkelheit eingestellt hatte, schlug er sie schnell auf und sah sich um. Er konnte es nicht glauben, ihm wurde schwindlig beim Versuch, diese Dimensionen zu erfassen.
Stellagen, Regale und Borde, so weit das Auge reichte. Bis hoch hinauf unters Dach, wo sie im trüben Licht verschwanden. Es war beinahe, als sähe er eine perspektivische Studie vor sich: Parallelen, die sich allmählich einander annäherten, bis sie schließlich das Dunkel der monumentalen Höhle verschlang. Die Scheuer war gigantisch. War gewaltig. War ungeheuerlich. Sie war …
Leer. Absolut und vollkommen leer.
Genauso leer wie die anderen elf.
Courgette schlenderte gemächlich durch den Wald, streifte durch das kühle Gras und wanderte langsam in Richtung Brunnen. Sie spielte. Sie spielte ›Eichhörnchen‹ und suchte sich einen Weg, der über Äste und Zweige führte, und zwar so, daß sie, um den Brunnen zu erreichen, nicht einmal den Boden berühren mußte. Das ging ganz hervorragend. Hier diesen Ast entlang, dort an der morschen Stelle nach links, den dünnen Zweig hinunter, dann: Anlauf und – Sprung! Aber vorsichtig, ganz vorsichtig. Es waren ein weiter Sprung und eine schwierige Landung. Jetzt diesen Ast hinauf, an der Eule vorbei, dann herunter über die … die … Eule!
Ihre Augen liefen die Strecke auf dem Ast wieder zurück … Da saß sie! Reglos und still und wunderschön: eine Eule. Eine männliche Eule. Ein Vogelmännchen. Ein Waldkauz! Courgette wollte es nicht glauben. Wie versteinert stand sie da, starrte zu dem Vogel hinauf und versuchte, sich jede Einzelheit genau einzuprägen. Die Eule öffnete ganz langsam ein orangerotes Auge und starrte von ihrem Ast auf sie hinunter. Der Blick traf sie wie ein Lanzenstich – durchdringend, durchbohrend und mitten ins Herz. In diesem Augenblick empfand Courgette ein Gefühl, das man – wie sie später einmal erfahren sollte – ›Liebe‹ nannte. Ihr Herz flatterte. Erschrocken schnappte sie nach Luft und hielt den Atem an. Sie zitterte vor Aufregung, nur mit großer Mühe gelang es ihr, ruhig zu bleiben, um den Vogel nicht zu verscheuchen. Jetzt öffne die Eule – wieder ganz langsam – das andere Auge. Es war, als öffnete sich – Zentimeter um Zentimeter – ein schwerer Samtvorhang; es war, als … es war … es war wunderschön.
Aber auch gefährlich. Courgette hatte gehört, daß gerade schöne Tiere oft sehr gefährlich waren. Schwarze Panther zum Beispiel, die so ein glattes Fell hatten und so sanft aussahen. Und wenn man sie streichelte – ein kurzer Prankenhieb, und man hatte eine Hand weniger. Winzige Frösche, so bunt wie Ostereier und dabei giftig von oben bis unten – wenn man sie anfaßte, fiel man auf der Stelle tot um. Es sah beinahe so aus, als wären gerade die schönsten und prächtigsten Tiere immer auch die gefährlichsten Tiere. Wäre Courgette ein Kaninchen gewesen, dann hätten Artengedächtnis und Instinkt jetzt Alarm geschlagen: Sie wäre in panischer Angst, mit trommelnden Hinterläufen, hakenschlagend davongeschossen. Vermutlich wäre sie nicht sehr weit gekommen: Geflügelte Krallen hätten sie in die Luft gerissen und ihr
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