Firkin 2: Die Frösche des Krieges
standortgebundenen Schleimpilzes.
Vor sich, von Laub und Blättern fast verdeckt, sah sie den fetten Wächter, der den Siegespreis beschützte, hinter dem sie her war: den Schatz. Noch war sie zu weit entfernt. Sie konnte ihn nicht richtig erkennen, sah nur ein winziges glitzerndes Ding, das in einem Haufen dürrer Blätter lag. Vor ihrem geistigen Auge aber sah sie ihn ganz deutlich, erkannte jeden Kratzer auf seiner Oberfläche, jede vom vielen Herumtragen glänzend gewordene Delle. Sie kannte ihn wahrscheinlich besser als alle anderen: neun Jahre lang hatte er ihr gehört, seit ihrem ersten Geburtstag. Als sie vor acht Monaten aus Khucaph, dem kleinen Gebirgsdorf in den Krapathen, hierhergekommen war, hatte sie ihn mitgebracht, hatte ihn sorgfältig und sicher verstaut und während des langen mühevollen Marsches bei sich getragen. Und dann war er ihr entrissen worden und lag jetzt schwerbewacht im Wald. Sie wollte ihn sich wieder holen. Das wollten die drei anderen allerdings auch.
Wie die anderen ›Diebe‹ hatte auch Dawn bereitwillig den Auftrag angenommen, dem Wächter, der mit Argusaugen auf ihn aufpaßte, den Schatz vor der Nase wegzuschnappen und ihn dorthin zurückzubringen, wo er jetzt hingehörte: in den Hof von Schloß Isolon. Wer bei der Ausführung dieses Auftrags scheiterte, mußte mit empfindlichen Strafen rechnen. Gefangennahme bedeutete den sicheren Tod. Wenn nicht Schlimmeres.
Dawn führte nicht zum ersten Mal einen derartigen Auftrag aus, es war nicht ihr erster Überfall auf den Wächter. Sie wußte, worauf sie sich gefaßt machen mußte, war bestens informiert, welches Risiko sie einging, welch übergroße Gefahr sie erwartete … Deswegen machte die ganze Sache auch höllisch Spaß! Sie fieberte vor Vorfreude, als sie sich jetzt auf die letzte, auf die Großoffensive vorbereitete. Für einen kurzen Augenblick dachte sie wieder an die Zeit in den krapathischen Bergen zurück, an die Spiele, die sie mit Firkin, ihrem älteren Bruder, und mit seinem Freund Hogshead gespielt hatte. Sie erinnerte sich noch sehr gut daran, wie eifersüchtig sie gewesen war, als sie ihnen nur zusehen konnte, weil sie so schwach und krank gewesen war, daß sie das Bett hüten mußte. Das Leben in den Bergen, wo man sich mit Ach und Krach mit den Abfällen aus der Speisekammer der Natur über Wasser hielt und für dieses Privileg auch noch Steuer und Abgaben zahlte – dieses Leben hätte sie beinahe nicht überstanden.
Das Mädchen, das im Augenblick den Wächter beobachtete, hatte mit dem Mädchen aus dem kleinen Dorf in den Krapathen nichts mehr zu tun. Ihre Genesung, die acht Monate, die sie jetzt in Schloß Isolon wohnte und lebte, zusammen mit ihren neuen Freunden – mit Courgette, der Tochter des Kochs, und mit Klayth, dem jüngsten König, der jemals in Isolon regiert hatte – das alles hatte eine Einstellung zum Leben bewirkt, gegen die selbst fanatischste Bigotterie nur eine vorübergehende Laune war. Sie hatte etwas von einer Besessenen, war voller Leben und Energie (selbst jemandem, dessen liebstes Hobby es war, sich die Nummern von Lokomotiven aufzuschreiben, wäre das aufgefallen). Sie hatte sich die zwei roten Bänder, die Klayth ihr geschenkt hatte, ins Haar gebunden, trug ein neues Paar Schuhe aus Kalbsleder und fühlte sich rundum wohl. Am liebsten hätte sie es hinausgeschrien, ganz laut und immer wieder und …
Dann plötzlich, links von ihr … bewegte sich etwas … Das brachte sie wieder auf das augenblicklich Anstehende zurück. Der Siegespreis, dachte sie, ich muß ihn haben! Sie spähte durch das Gebüsch und sah flüchtig, daß sich Courgette, der Rotfuchs, zum letzten, alles entscheidenden Sprung fertigmachte. Obwohl Dawn den größten Teil der Lichtung übersehen konnte, hatte sie bisher nicht feststellen können, wo Firkin und der König steckten. Sie hatte den leisen Verdacht, daß die beiden gemeinsam losschlagen wollten. Es war eines ihrer bevorzugten Manöver: Firkin täuschte eine Attacke vor, lenkte damit Hogshead oder wer immer gerade der Wächter war ab, Klayth kam aus der Deckung, rannte wie aus dem Nirgendwo auf den Schatz zu, schnappte ihn und raste mit ihm in Richtung Schloßhof davon. Dawn hielt das eigentlich für Betrug. So etwas verstieß gegen den Geist des Spiels: Jeder gegen jeden – und nicht paarweise gegen den Rest.
Plötzlich sah sie Firkin. Er stand auf der anderen Seite der Lichtung, gestikulierte und gab Klayth Zeichen. Und fast im selben Moment
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