Fischer, wie tief ist das Wasser
Gras, und da es keinen Gehweg gab, balancierte ich geradezu auf dem schmalen Streifen zwischen Asphalt und sumpfigem Gestrüpp. Ab und zu blieb ich stehen und wartete auf ein herannahendes Fahrzeug, dessen Scheinwerferlicht mir flüchtig ein bisschen mehr von der Umgebung zeigen konnte.
Es gab nicht viel zu sehen, ein paar Weidezäune, hinter denen satte schwarzbunte Kühe dösten, eine Bushaltestelle mit einem Plakat, von dem die eine Hälfte bereits abgerissen war. Hinter der Handywerbung lachte ein fröhlich-friesischer Teetrinker im Fischerhemd. Es war ein Werbeplakat meiner alten Firma, ich hatte es selbst entworfen, obwohl ich wusste, dass es keine solchen Menschen mehr in dieser Gegend gibt. Wer hat schon Zeit für einen Tee mit Kluntje und Sahne, drei winzige, feine Tassen sind Ostfriesenrecht und umgerührt wird nicht? Der erste Schluck sahnig-bitter und der letzte süß wie Karamell. Ich kannte nur Menschen, die Teebeutel benutzten und aus großen Kaffeepötten tranken, weil es praktischer war. Doch trotzdemwollte man hier auf dem Land, wo die Fernsicht zum Deich nur von stattlichen Bäumen und einigen Windkraftanlagen behindert wurde, dem ostfriesischen Klischee der Gemütlichkeit noch Glauben schenken. Hier erwartete man vollbärtige Krabbenkutterkapitäne und blonde Frauen in Holzpantoffeln. Ich trug Turnschuhe und Jeans, konnte kein Plattdeutsch und fühlte mich doch am richtigen Platz. Schon immer, und auch hier auf dem holperigen, dunklen Weg, der nur die einzeln verstreuten Höfe miteinander verband, war ich nur unterwegs ohne ein bestimmtes Ziel vor Augen und wusste doch, dass ich angekommen war. Dann wollte ich umkehren, weil es zu dunkel wurde und ich Angst bekam, in den Graben zu fallen. Ich drehte mich um und wäre beinahe den Abhang hinabgerutscht, weil mein Herz für einen Schlag aussetzte und die plötzlich weichen Beine ihren Dienst quittierten: Sjard Dieken stand vor mir, keine drei Schritte entfernt, wie ein Baum, der in Sekundenschnelle aus dem Boden gewachsen war.
«Ein Abendspaziergang», sagte er nur.
«Ich mache einen, ja. Aber wissen Sie, wie sehr Sie mich erschreckt haben? Sie sind mir doch nicht zufällig um Armesbreite durch die Dunkelheit gefolgt, oder?»
Er lächelte. Es war das erste Mal, dass ich ihn außerhalb der Geschäftsräume traf, und auch bei Liekedeler war ich ihm in den letzten fünf Wochen nur ein Dutzend Male über den Weg gelaufen. Doch wenn wir uns trafen, dann lächelte er und sagte meinen Namen, ich fand es schön, wie er ihn aussprach. Wenn die Kinder von ihm schwärmten, weil er ein Abenteurer war oder vielleicht so etwas wie der Störtebeker im Liekedeler-Haus. Wenn sie Geschichten erzählten, wie er mit ihnen gesegelt war oder sie gemeinsam ein Baumhaus im Wald gezimmert hatten, dann hörte ich liebend gern zu. Er mochte dieSchüler genauso wie ich, in ihm steckte noch viel von einem kleinen Jungen, und das konnte ich so gut verstehen, weil auch ich oft am liebsten aus dem Fenster gesprungen wäre, wenn die Kinder draußen spielten und ich sie vom Schreibtisch aus durch die Scheibe beobachtete. Ich hatte inzwischen fast das Gefühl, dass wir uns nahe standen, Sjard Dieken und ich.
«Sagen wir, es ist ein halber Zufall. Ich war noch im Garten und als ich ins Haus gehen wollte, sah ich Sie in Richtung Straße hetzen. Da dachte ich schon, Sie wollten uns verlassen. Also bin ich Ihnen gefolgt.»
«Um mich aufzuhalten oder um mich zu Tode zu erschrecken?»
«Um ehrlich zu sein: Ich dachte, nach heute Morgen hätten Sie Lust, Reißaus zu nehmen. Sie könnten zu weit laufen und dann mitten auf dem Land bei stockfinsterer Nacht den Weg nach Hause nicht mehr finden.» Er hielt mir seine Hand hin, ich packte zu und zog mich wieder in die Senkrechte.
«Sie denken, ich bin ein dummes Rotkäppchen, das vom Weg abkommt und in sein Verderben rennt. Spricht nicht gerade für mich, dass Sie mich so einschätzen.»
«Gehen wir», sagte er nur, dann drehte er sich um und ging wortlos davon. Ich lief hinter ihm her und blickte auf seinen geraden, festen Rücken, der sich so nah vor mir ausbreitete, dass ich die Haut unter dem Shirt riechen konnte. Der Weg war zu schmal, als dass wir nebeneinander hätten gehen können. Doch ich genoss es, ihm ungestört auf die Schultern, die Wirbelsäule und das, was darunter lag, starren zu können.
Erst als wir die Einfahrt zum Haus erreicht hatten, gingen wir nebeneinander wie zwei erwachsene Menschen. Er schaute mich von der
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