Fischer, wie tief ist das Wasser
soll?», ergänzte er lachend. «Wird erledigt, Veronika, mach dir keinen Kopf deswegen. Aber ich muss wirklich mal nachsehen, was da im Garten los ist, die schreien ja, als ginge es um Leben und Tod. Mach’s gut!»
Dr. Schewe war am Fuß der Eingangstreppe angelangt. Sie fühltesich schon besser, Erleichterung beflügelte ihre Schritte, als sie die ersten Stufen hinauflief.
«Danke», sagte sie noch leise ins Handy, doch Sjard Dieken hatte bereits aufgelegt.
Am Abend, nachdem wir die unscheinbare Jolanda Pietrowska wegen des Verdachts auf Gehirnerschütterung ins Krankenhaus bringen mussten, kam ich endlich dazu, die blau karierten Vorhänge vor das runde Fenster zu hängen. Bevor ich sie zum ersten Mal zuzog, schaute ich lange hinaus. Die abtauchende Sonne hatte dem Deich in der Ferne eine flammend rote Krone aufgesetzt und schickte noch ein paar Strahlen tief und ausufernd über das flache Land.
Ich hatte das Mädchen nach dem Unfall nicht gesehen, doch Silvia Mühring erzählte völlig aufgelöst, dass Jolanda bewusstlos auf dem Boden gelegen hatte und ihr das Blut aus den Ohren gelaufen war. Ich dachte an die erste Begegnung mit dem zarten, beinahe zerbrechlich wirkenden Kind, als wir gemeinsam den Gummiball aus dem Graben gefischt hatten. Es war mehr als vier Wochen her, doch ich erinnerte mich noch ganz genau an ihr leises, singendes Lachen. Es klang genauso schön wie ihr atemberaubendes Klavierspiel. Jolanda Pietrowska war ein Wunderkind, ein erstaunlich liebenswertes Wunderkind. Ich schickte ihr die besten Wünsche in den Abendhimmel hinaus. Dann drehte ich mich um, um mir mein neues Reich anzusehen.
Es wurde langsam gemütlich in meinen eigenen vier Wänden, die schrägen Raufaserwände in meinem Zimmer schimmerten in sanftem Sonnenuntergangsrot, obwohl sie bei Tageslicht weiß und noch immer ein wenig nichtssagend waren. Vielleicht fehlten die Bilder von Freunden, Pinnwände voller Souvenirsaus einem vergangenen Leben vor Liekedeler, Kalender mit eingetragenen Terminen, die schon seit Monaten feststanden. Ich besaß nichts dergleichen, das einzig Persönliche, mit einer Stecknadel an die Tapete geheftet, waren ein Foto von meiner Mutter auf dem Hollandrad, mit dem ich jetzt fuhr, und die letzte Ansichtskarte von meinem Vater aus Bulgarien, adressiert an meine alte Adresse in der Stadt. Sie war per Nachsendeantrag hierher geschickt worden.
Bussi aus Bulgarien, meine liebe Okka! Du willst sicher gar nicht wissen, wie das Wetter, das Essen und die Arbeit hier sind. Wie gefällt dir denn dein neuer Job? Ich hoffe, gut, bis bald, dein Papa! PS: Grüße Ben von mir!
Ich hatte einen ganzen Karton dieser Kartengrüße meines Vaters, er stand noch unausgepackt im Flur und ich überlegte seit meinem Umzug, diese Reliquien meiner Kindheit zum Altpapier zu stellen. Eine fröhlich-bunte Karte aus Brasilien, auf der er sein Bedauern ausdrückte, nicht zu meiner Konfirmation kommen zu können. Ein idyllisches Grün aus Irland mit Gratulationen zum bestandenen Abitur. Immer an unsere gemeinsame Adresse in der Stadt, wo ich während seiner Reisen von den kinderlosen Nachbarn liebevoll betreut wurde.
Und immer wieder:
Ich vermisse dich, dein Papa!
Ich vermisste ihn auch.
Mir war nicht wohl bei dem Gedanken, dass er sich immer noch nicht bei mir gemeldet hatte, obwohl schon vor zwei Tagen Licht in der Wohnung brannte und ich ihm meine neue Anschrift und Telefonnummer aufgeschrieben hatte. Mein Vater war mir wichtig, wichtiger als alles andere im Leben, da er das einzig Stetige war, was mich seit meiner Geburt begleitete. Oder besser gesagt: Seine ständige Abwesenheit war das einzig Stetige und die Wiedersehensfreude zwischen seinen Reisen.
Die Vorhänge zog ich zu, die Briefe blieben im Karton und ich warf mir ein leichtes Sweatshirt über, um meinen ersten Abendspaziergang auf der unbekannten Straße, die meine Adresszeile jetzt schmückte, zu machen.
Es war frischer, als ich dachte, so legte ich die Arme um meinen Körper und lief ein wenig schneller, es sah wahrscheinlich eher wie ein hastiges Verlassen des Grundstückes aus als nach einem gemütlichen Schlendern. Die Dämmerung warnte mich bereits vor der nahenden Dunkelheit und die Beleuchtung außerhalb des Grundstückes war spärlich. Die Straße verlief parallel zur stark befahrenen Bundesstraße und wurde deshalb nur von Anliegern oder verirrten Touristen genutzt. Links und rechts der Fahrbahn senkten sich tiefe Gräben in das wuchernde
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