Fischer, wie tief ist das Wasser
herzuckenden Kopf.
«Bist du doch», flüsterte Gesa in sich hinein.
«Nun tun Sie doch etwas», jammerte Frau Andreesen. Sie war mager und genauso grau im Gesicht wie ihr Sohn, versuchte es aber mit einem blutroten Kleid zu überspielen. Sie sah gruselig aus.
Okka Leverenz hatte heute noch gar nichts gesagt, starrte nur von einem Kind zum anderen und sah aus, als würde sie auch gleich flennen. Vorhin hatte sie Gesas Blick eingefangen und ihr tröstend zugelächelt, da war es Gesa gelungen, gleich einen ganzen Strom heißer Tränen über ihr Gesicht laufen zu lassen, und sie hatte kurz gejammert. «Ich will nicht das einzige Mädchen sein …» Eine gelungene Vorstellung für die blöde Leverenz, die nichts von dem verstand, was hier im Haus vor sich ging.
Es gab nur eine Frau, von der sie sich wirklich trösten lassen wollte: Dr. Veronika Schewe. Sie trug immer Kleidung aus festem, teurem Stoff, der nicht verrutschte oder in Falten fiel, und sie roch wunderbar nach nichts. Kein billiges Deodorant, kein teures Parfüm, kein Waschpulver. Einfach nur geruchslose, kühle Haut und dazu ein funktionierender Kopf. Es wäre toll, wenn diese Frau Gesas Mutter hätte sein können. Manchmal vergoss Gesa ein paar Tränen um ein Insekt, das sie selbst vorher getötet hatte, nur damit Dr. Schewe ihr über den Kopf strich und sagte, dass alles nicht so schlimm sei.
Doch heute kam sie nicht zu Gesa. Sie stand auf den Treppenstufen vor dem Haus und blickte auf die Kinder hinunter, sagte ab und zu ein paar milde Worte, doch sie kam nicht hinunter,um den einen oder anderen oder am liebsten Gesa mit den schlanken, trockenen Händen zu berühren.
Gesa war gekränkt. Jolandas Tod wäre ein guter Grund für eine kurze Umarmung gewesen, doch Dr. Schewe rührte sich nicht. Schließlich ging sie selbst die Stufen hinauf, schob sich an Dr. Schewes Seite, griff nach dem Arm im wunderbaren hellgrauen Kostüm und legte ihn sich um die Schultern. Ein leiser Druck zeigte ihr, dass Dr. Schewe sie wahrgenommen hatte. Gesa schloss die Augen und roch.
«Es ist zwar kein passender Augenblick, aber ich habe gerade einen wichtigen Anruf erhalten», sagte die etwas unsichere Stimme, die zu Okka Leverenz gehörte. «Es war der Fernsehsender, den ich kontaktiert hatte. Sie wollen nicht nur einen kurzen Bericht bringen, sondern planen eine eigene Sendung für uns ein.»
Gesa spürte, wie sich der Körper neben ihr zu der Richtung wandte, aus der die Neuigkeit gekommen war. «Das ist ja sehr erfreulich!»
«Wir sollten uns nur überlegen, ob wir …» Okka Leverenz zögerte.
«Ja?», hakte Dr. Schewe nach.
«Ob wir unter diesen Umständen nicht lieber doch ein anderes Kind für die Fallstudie auswählen sollten.»
Gesa hatte beinahe Sorge, dass Dr. Schewe das wilde Pochen ihres Herzens spüren konnte, doch sie konnte ihre Aufregung nicht verbergen: Henk Andreesen war aus dem Spiel! Er sollte nicht mehr der Sonnenschein, der Musterjunge in diesem Haus bleiben, und dann standen die Türen endlich wieder offen für sie. Es wäre wunderbar, wenn Sjard Dieken wieder mit ihr nach Norden zum Psychologen fahren würde und Dr. Schewe kleine Rätselaufgaben für sie bereithielt. Gesa kniff die Augen nochfester zusammen, als könne sie so all die wunderbaren Bilder, die vor ihrem inneren Auge auftauchten, wahr werden lassen.
Dr. Schewe drehte sich nun ganz zur Seite. Sie zog den Arm fort und Gesa stand hinter ihrem Rücken, als sie hörte, wie ihre Dr. Veronika Schewe die Sache sah: «Auf keinen Fall werden wir Henk aufgeben, verstehen Sie? Jolanda Pietrowska wäre mit ihrem musikalischen Talent eine Alternative gewesen. Doch diese Möglichkeit haben wir ja leider nicht mehr. Sie müssen so bald wie möglich mit Henks Mutter reden, am besten heute noch!» Dr. Schewe machte keinen Hehl daraus, dass sie sich über Okka Leverenz’ Vorschlag ärgerte.
Doch sie bekam Widerworte. «Ich denke nicht, dass es gut ist, heute oder in den nächsten Tagen mit Frau Andreesen zu sprechen. Sie ist ganz außer sich wegen des Unfalls. Das sind sicher keine guten Voraussetzungen für ein Gespräch.»
Dr. Schewe holte tief Luft und Gesa konnte das wütende Zittern im Inneren der Frau spüren. «Entweder Henk Andreesen oder gar keiner. Alle anderen Kinder taugen nichts. Haben wir uns verstanden?»
«O nein, auf gar keinen Fall.» Malin Andreesens schneidende Stimme ließ mir keine Möglichkeit, darauf zu hoffen, dass sie sich
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