Fischer, wie tief ist das Wasser
herausgefunden habe», sagte ich und legte auf. Dann schaute ich aus dem Fenster. Ich dachte an Jolanda, die vielleicht schon wochenlang unter Kopfschmerzen gelitten hatte, ohne ein Wort darüber zu verlieren. Und mir fiel auch Gesa ein, wie sie heute nach ihrem Zusammenbruch weiß und bewusstlos auf der Couch im Sitzungszimmer gelegen hatte, bis der Arzt kam und einen Kreislaufkollaps diagnostizierte, der bei Mädchen in ihrem Alter angeblich ganz normal sei. Und ich dachte an Sjard.
Wenn es etwas bei Liekedeler zu verheimlichen gab, dann musste er davon wissen. Er stand hier an zweiter Stelle, war Dr. Schewes rechte Hand. Ich schloss kurz die Augen und schluckte schwer an meinen Gedanken: Wenn hier etwas faul war, dann wusste er Bescheid, dann belog er mich und sein Lachen, mit dem er mir jeden Tag begegnete, musste ein falsches Spiel sein.
Trotzdem hoffte ich, dass mein Misstrauen unbegründet war. Dass es für all dies eine logische und völlig harmlose Erklärung gab. Ich hoffte es wirklich.
Doch ich konnte nicht mehr daran glauben.
Sehr geehrte Frau Leverenz,
hiermit entschuldige ich das Fehlen meines Sohnes Henk. Es ging ihm nach dem Tod seiner Mitschülerin nicht gut, er litt unter starken Kopfschmerzen, was ich für eine Form von Schuldgefühlen
halte. Wir haben beschlossen, ein paar Tage nach Juist zu fahren. Schließlich hat Henk bald Sommerferien und ich konnte mir auch ein paar Tage freinehmen, also nutzen wir die Gelegenheit, dass wir endlich einmal Zeit füreinander haben.
Doch dies ist nicht der eigentliche Grund für mein Schreiben, vielmehr geht es um unser unerfreuliches Gespräch vor ein paar Tagen. Ich habe Ihnen Vorwürfe gemacht, dass bei Liekedeler zu wenig auf die Ängste und Nöte der Kinder eingegangen wird und es stattdessen immer nur um die Leistungen der Schüler geht. Es war sicherlich ungerecht von mir, diese Anschuldigungen ausgerechnet bei Ihnen loszuwerden, denn im Gegensatz zu den anderen Mitarbeitern Ihrer Firma haben Sie dieses Problem anscheinend ebenfalls erkannt. Bedauerlicherweise habe ich Sie trotzdem in meiner manchmal etwas aufbrausenden Art angegriffen. Im Nachhinein tut es mir Leid, denn ich denke, Sie und Ihre Arbeit können für Liekedeler eine Bereicherung sein.
Sie scheinen einen guten Draht zu meinem Sohn zu haben. Er spricht oft von Ihnen und fragt, wann er Sie wieder sehen kann. Und Henk ist ein Kind, das nicht so schnell Vertrauen schenkt. Ich bin als Mutter auch nicht unschuldig an seinem Argwohn. Vielleicht ergibt sich ja mal eine Gelegenheit, dass ich Ihnen mehr darüber erzähle.
Bis dahin hoffe ich, dass Sie meine Entschuldigung akzeptieren.
Mit freundlichen Inselgrüßen,
Ihre Malin Andreesen
PS: Henk wird bis zum Ende der Ferien hier bleiben, bitte haben Sie Verständnis, dass er aus diesem Grund nicht an den Filmaufnahmen für die Dokumentation teilnehmen wird.
Dr. Veronika Schewe legte den Brief zur Seite und rieb sich fest und nachdenklich über das Gesicht. Sie war müde, es war schon spät. Sie konnte ihr Auto durch das Bürofenster sehen, es stand im Hof, als warte es auf sie. Aber Feierabend? Dieser Brief hier, den sie eigentlich nicht hätte lesen dürfen, weil er an Okka Leverenz adressiert war, diese Zeilen verschoben den Feierabend auf irgendwann nach Mitternacht.
Henk Andreesen war verreist. Natürlich konnte jedes Kind außerhalb der Schulzeiten verreisen, wann es wollte. Es kam nur so gut wie nie vor. Sie hatten sich die Kinder sorgfältig ausgesucht. Kaum eines von ihnen hatte Eltern, die Zeit, Geld oder auch nur Lust hatten, mit ihren Sprösslingen in den Urlaub zu fahren. Dass Malin Andreesen von einem Tag auf den anderen den Drang verspürte, mit ihrem vernachlässigten Sohn Henk gemeinsame Sache zu machen, war nicht vorhersehbar gewesen. Es war fatal.
Liekedeler sollte nicht die Kontrolle verlieren, das hatte Birger ihr heute unmissverständlich klar gemacht. Und er hatte auch keinen Zweifel daran gelassen, dass er besonderen Wert auf Henk Andreesen legte.
Kein Wunder. Henk war inzwischen bei einem IQ von 135 angelangt. Eine Sensation! Die Presse würde seitenweise darüber berichten, nicht nur die Fachzeitschriften, auch die ganz gewöhnlichen Allerweltsblätter, da war sie sich sicher. Intelligenz war ein begehrtes Gut, begehrter als Reichtum und Schönheit, denn ein hoher IQ öffnete einem viele Türen, wenn man es wollte, da kamen das Geld und die Attraktivität beinahe von selbst dazu. Noch drei
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