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Fischer, wie tief ist das Wasser

Fischer, wie tief ist das Wasser

Titel: Fischer, wie tief ist das Wasser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Lüpkes
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gerissenen Knie gezielt wurde.
    «Hör auf!», jammerte Ingo Palmer. Doch das dumpfe Knallen ertönte erneut, ich merkte auch von hier drinnen, dass die Schläge mit voller Absicht daneben zielten, dass sie nur einschüchtern sollten.
    «Ich mach dir deinen Sack kaputt, Ingo Palmer, du alter Mistkäfer», lachte die Stimme, der man schon die ersten Stimmbruchpannen anhörte und die nun einen kreischenden Hänselgesang anstimmte. «Hör auf mit der Scheißdichterei, hör auf mit der Scheißdichterei, hör auf mit der Scheißdichterei, sonst ist dein Sack nur Brei!»
    Mir schauderte. Natürlich wusste ich, dass Kinder grausam sein konnten, ich hatte es hier bei Liekedeler nur irgendwie vergessen. Nein, nicht wirklich vergessen. Henk Andreesen hatte mir von diesem Vorfall mit Gesa Boomgarden erzählt. Doch nun war ich unmittelbar dabei und konnte nichts tun, stand nur geschockt da.
    Bomm! Wieder schlug die Stockspitze mit voller Wucht gegen die Scheibe.
    «Lass mich in Ruhe!», heulte Ingo Palmer. Warum eilte keiner der Lehrer zu ihm? Er konnte sich doch nicht zur Wehr setzen. Mein Gott, ich sollte ihm helfen!
    In drei großen Schritten war ich an der Tür, und als ich gerade den Knauf herunterdrücken wollte, hörte ich die schweren Schritte der Köchin auf der Treppe. Keine Chance, ich musste hier bleiben. Wieder schaute ich zum Fenster, die Schläge hatten aufgehört, Ingo Palmers geringeltes T-Shirt klebte am Fenster, er schien auf die Knie gesunken zu sein. Ich horchte, ob ich ein Wimmern oder ein Heulen hören konnte, doch wenn Ingo weinte, dann tat er es still. Außer dem Gerede des Küchenpersonals auf dem Kellerflur war es leise.
    Ich atmete tief durch, um mich selbst zu beruhigen. Meine Finger glitten wieder über die aufgereihten Aktenordner, an einer Mappe blieben sie hängen: Bewerbungen.
    Gut, Bewerbungsunterlagen hatten nicht viel mit dem zu tun, was ich eigentlich in diesem verbotenen Raum finden wollte, doch ich konnte nicht widerstehen und blätterte darin. Die Briefe waren nicht aktuell, über mich fand ich nichts. Ich wollte den Ordner gerade wieder zurückstellen, da kippte mir aus dem Regal ein dünnes, in Plastikfolie eingebundenes Heft ge nau in die Hände:
Ausarbeitung über den Zusammenhang von Intelligenz und Lernverhalten bei Grundschulkindern,
verfasst vor fünf Jahren von Sjard Dieken. Mir stockte der Atem. Es war beinahe so, als hätte ich ein geheimes Tagebuch von ihm entdeckt.
    Die Gespräche vor der Tür waren verstummt, ich fühlte mich sicher und unbehelligt genug, also schlug ich die erste Seite auf. Da es viel zu dunkel zum Lesen war, rückte ich ein wenig unter das Fenster, welches wieder frei war und ein kleines bisschen Licht in den Kellerraum dringen ließ. Es musste gehen.
    Dem Heft war ein Schreiben beigefügt.
     
    Sehr geehrte Frau Dr.   Schewe,
    es freut mich, dass unser Projekt in Ihren Händen bestens aufgehoben ist und wir in Norden bald die ersten Kinder in Obhut nehmen können.
    Anbei sende ich Ihnen die Examensarbeit eines jungen Pädagogikstudenten aus Oldenburg, sein Name ist Sjard Dieken. Ich selbst habe dieses hervorragende Werk mit größtem Interesse gelesen und halte es gerade in Verbindung mit unseren Zielen für eine gute Ergänzung eines pädagogischen Konzepts.
    Es wäre sehr in meinem Interesse, wenn Sie den jungen Mann kontaktieren und ihm ein gutes Angebot zur Zusammenarbeit machen könnten.
    Mit freundlichen Grüßen,
    Prof.   Dr.   Birger Isken, Hannover
     
    Ein Geräusch an der Tür ließ mich aufschrecken. Instinktiv hastete ich in eine Ecke im hinteren Teil des Raumes. Kein Zweifel, die Türklinke wurde gedrückt. Ich konnte sehen, wie der Anhänger des Schlüssels, der noch von innen steckte, leicht hin- und herschwankte. Jemand wollte herein. Mein Blick durch das trübe Licht zeigte mir leider kein brauchbares Versteck, nur Aktenordner in den Regalwänden, sonst nichts. Wenn dieser Jemand vor der Tür einen zweiten Schlüssel hatte, dann war ich dran. Das hatte ich jetzt davon.
    Ich hörte vor der Tür ein leises Fluchen. Es war Silvia Mühring. «Wo steckt der verdammte Schlüssel?», flüsterte sie. Dann entfernten sich die Schritte, ich konnte sie eilig die Treppe hinaufhasten hören.
    Mir blieb nicht viel Zeit. Hastig stellte ich die Mappen wieder an ihren Platz zurück, sie standen etwas vor und ich befürchtete, dass es Silvia Mühring sofort auffiel, wenn etwas anders warals sonst. Doch ich musste hier raus. Es blieb mir keine Wahl.

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