Fischer, wie tief ist das Wasser
oder vier Wochen und der kleine, graue Junge von der Insel wäre dort angekommen, wo sie ihn haben wollten. Ganz oben! Im Olymp der Hochbegabten!
Veronika Schewe dachte nur selten an ihre Kindheit und an dasewige, mühselige Erklimmen der selbst gesteckten Ziele. Stets hatte sie sich trotz ihrer hohen Begabung noch ein wenig mehr gewünscht, wollte immer noch eine Seite mehr lesen, auch wenn das Buch zu Ende war. Sie hatte einen Hunger gehabt, der nicht gestillt werden konnte. Hätte sie damals die Möglichkeit gehabt, diese wunderbare Möglichkeit, die der kleine Henk nun in vollen Zügen nutzen konnte, sie hätte alles Wissen der Welt verschlungen und wäre vielleicht endlich einmal satt geworden.
Doch Henk war verschwunden. Er war außerhalb ihres Wirkungskreises. Unerreichbar, zumindest für sie.
Es würde Probleme geben. Das Geld könnte knapp werden. Nicht nur Birger hatte ein Interesse daran, dass Henk auf dem richtigen Weg blieb. Sie wusste, dass ein anderer Mann Henk ebenfalls aus der Entfernung betrachtete und seinen rasanten Aufstieg mit Wohlwollen verfolgte und mit Geld unterstützte. Und dieser Mann hatte wirklich Geld. Noch mehr als Birger. Die Versorgung der Kinder stand auf dem Spiel. Was, wenn sie ihr tägliches Programm nicht mehr bezahlen konnten?
Birger Isken hatte heute sein wahres Gesicht gezeigt. Es ging ihm nur um das Experiment, die Ergebnisse bedeuteten für ihn Sieg oder Niederlage. Er war schon immer so gewesen, schon damals an der Universität.
Veronika Schewe fühlte sich elend, allein und wie ausgewrungen.
Selbst Sjard konnte sie nicht mehr trauen. Sie hatte ihn beobachtet. Seit Tagen schon. Und es war nicht zu übersehen, dass er seinen Blick nicht von Okka Leverenz lassen konnte. Es war nicht abgesprochen gewesen, dass er sie mit den Augen verschlingen sollte. Sie hatte Sjard nur gebeten, sich ein wenig heranzupirschen. Dr. Veronika Schewe begann zu befürchten, dass ihr kleiner Plan aus dem Ruder lief.
Diese Okka war schlauer, als sie alle gedacht hatten. Und als sie ihr heute Mittag vor allen Leuten das Du verweigert hatte, da war ihr klar geworden, dass sie vielleicht schon längst eine gefährliche Witterung aufgenommen hatte.
Aus diesem Grund war es undenkbar, ihr den Brief von Malin Andreesen auf den Schreibtisch zu legen. Ein ermutigendes Schreiben von einer Mutter könnte Okka Leverenz in ihren Ansichten bestärken. Dr. Veronika Schewe wusste, dass sie das Kuvert unauffällig hätte zukleben können, es war schon schlimm genug, dass sie es überhaupt geöffnet hatte. Es wäre ihr sicher gelungen, Okka Leverenz den Brief zu geben, ohne dass irgendein Verdacht aufgetaucht wäre. Doch sie entschied sich anders. Auch wenn es irgendwann einmal herauskommen konnte, dass dieser Brief existiert hatte, was sehr wahrscheinlich war, sobald Malin Andreesen und Okka Leverenz sich das nächste Mal treffen würden, sie musste dieses Risiko eingehen, um ein wenig Zeit zu gewinnen. Außerdem konnte ein Brief immer in der Post verloren gehen.
Sie hatte selbst die Post aus dem Kasten geholt, niemand außer ihr hatte gesehen, dass der Brief im Liekedeler-Haus angekommen war.
Dr. Veronika Schewe zerriss die beschriebenen Blätter und presste die Fetzen zu einem harten, kleinen Ball.
6.
Am nächsten Morgen waren die Kinder schon früh im Haus. Die Sommerferien hatten begonnen und stellten den gewohnten Zeitplan bei Liekedeler auf den Kopf.
Die meisten kamen nun bereits am Vormittag und die Lehrer hatten bunte Sommerprojekte vorbereitet: Jochen Redenius wollte nächste Woche mit der ganzen Meute zur Meyer-Werft nach Papenburg fahren, wo ein mächtiges Kreuzfahrtschiff auf seine letzten Montagegriffe vor dem anstehenden Stapellauf wartete. Robert Lindkrug plante eine Exkursion ins Auricher Moor und die Einrichtung eines kleinen Feuchtbiotops im Schulgarten. Ich sah es an den erwartungsvollen Blicken der Kinder, dass die Schulferien bei Liekedeler immer aufregend waren.
Schon der erste Tag der Sommerferien schien etwas ganz Besonderes zu sein, es war der Kartoffelfeuertag.
Die Vorbereitungen für das Lagerfeuer am Abend hielten alle gleich nach dem Frühstück auf Trab: Die Kinder sammelten fleißig Äste und ähnliches Gehölz, um alles zu einem großen Haufen zusammenzutragen. Auf diese Weise wurde gleich das Grundstück in Ordnung gebracht, freute sich Sjard, der sich mit der Säge an einigen großen Ästen zu schaffen machte, die in den Weg gewachsen waren. Ein benachbarter
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