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Fischer, wie tief ist das Wasser

Fischer, wie tief ist das Wasser

Titel: Fischer, wie tief ist das Wasser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Lüpkes
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Sicher kam sie gleich mit einem Ersatzschlüssel zurück, und dann wäre ich geliefert. Meine letzte Chance.
    Doch als ich bereits die geöffnete Tür in der Hand hielt, da fiel mein Blick auf einen dünnen Ordner direkt neben dem Ausgang.
B.I.-Hannover
stand darauf. Auf dem Empfehlungsschreiben für Sjard hatte doch ein Name gestanden, Birger Isken, Hannover. Aber ich musste mich beeilen. Die Tür nach oben stand offen und ich konnte schon wieder die stöckeligen Schritte von Silvia Mühring hören, also griff ich schnell die schmale Akte, schob sie unter meinen Pullover und schlich mich aus dem Zimmer. Ich hatte keine Zeit mehr, den Schlüssel innen abzuziehen. Rasch und geräuschlos zog ich die Tür zu und floh in eine dunkle Nische neben der Treppe, in der ich mich weitestgehend verbergen konnte.
    Nur ein paar Zentimeter von mir entfernt kam Silvia Mühring die Treppe herab, sie hatte tatsächlich den zweiten Schlüssel in der Hand. «Verdammt nochmal», fluchte sie wieder, als es ihr nicht gelingen wollte, das Ding ins Schloss zu stecken. Wieder rüttelte sie an der Klinke und natürlich öffnete sich diesmal die Tür so leicht und selbstverständlich, dass sie fast in den Raum hineingefallen wäre. Ich konnte nicht sehen, wie sie nun im Archivraum stand, sich vielleicht nachdenklich die Stirn rieb und schließlich den anderen Schlüssel von innen stecken sah. Doch ich wusste, dass ihr diese Ungereimtheiten im Kopf herumgeistern würden, dass sie mit Dr.   Schewe darüber reden würde und dass der Schlüssel in Zukunft nicht mehr in dem grauen Schlüsselkasten neben der Cheftür hängen würde. Ich hielt die Arme über meiner Beute verschränkt, spürte die Kanten des Ordners an meiner Brust, bevor ich den nächsten Augenblick für einen hektischen Treppenaufstieg nutzte.
     
    Gesa war sauer auf den Arzt, der ihr verboten hatte, heute zu Liekedeler zu gehen, und sie hasste ihre großen Brüder, die wie die Teufel darauf achteten, dass sie sich an dieses Verbot hielt.
    Erst hatten sie sie in ihrem Zimmer eingesperrt, doch das Fenster führte direkt auf das Vordach der Scheune, und Gesa schob ihren Fuß heraus, kaum dass die Zimmertür verschlossen gewesen war. Hätte der blöde, dreckige Köter neben dem Hühnerstall nicht solchen Alarm geschlagen, dann wäre ihr die Flucht auch geglückt. Doch so kam ihre Schwester auf den Hof gerannt. «Was hast du, Kessi?» Und dann hatte sie dem Hundeblick folgend Gesa auf dem Scheunendach stehen sehen und Papa geholt. Gesa meinte schon, die blauen Flecken zu spüren, die ihr der Vater nun verpassen würde, doch er hatte sie nicht geschlagen. Diesmal nicht. Seit Gesa bei Liekedeler war, hatte er sie nicht mehr verprügelt. Ihrem Vater machte es nicht das Geringste aus, anderen wehzutun, doch da er wusste, dass man die blauen Flecken in der Schule entdecken würde, ließ er sie in Ruhe. Er sperrte sie lediglich im Gerätehaus ein. Ein Raum ohne Fenster, ein wenig Stroh in der Ecke, das ideale Gefängnis für eine Tochter, die abhauen wollte.
    Und dabei ging es ihr heute so gut wie lange nicht mehr. Sie spürte zwar noch ein ätzendes Kneifen direkt über der Nase und ihre Gedanken schienen manchmal wie verknotet zu sein, doch es war im Vergleich zu gestern ein unglaublich schönes Gefühl, von den schlimmsten Schmerzen in Ruhe gelassen zu werden.
    Gesa kauerte auf den piksenden Halmen und lauschte den Geräuschen des Bauernhofes. Sie hatte diese Laute schon lang nicht mehr hören müssen: das Fluchen des ältesten Bruders, wenn der schwere Ackergaul das Zaumzeug abschütteln wollte; das Scheppern der Milchkannen, wenn sie nach dem Auswaschenzum Trocknen auf den Hof gestellt wurden; das Brüllen des Vaters, der es nicht ertragen konnte, wenn jemand mit den Händen in der Hosentasche über sein Grundstück lief. Und manchmal meinte sie sogar, das Schweigen ihrer Mutter zu hören, die einfach nur funktionierte und arbeitete und noch nie in ihrem Leben zur Ruhe gekommen war.
    Gesa wusste, warum man sie hier eingesperrt hatte. Es ging nicht darum, dass sich irgendjemand Sorgen um sie machte, dass sie gestern vor lauter Kopfschmerzen in der Schule zusammengebrochen war. Darum ging es hier niemandem. Es ging darum, dass sie in Ruhe gelassen werden wollten. Dass sie keine neugierigen Fragen und so beantworten wollten, wie damals, als man Gesa hier entdeckt hatte. Das vergessene Kind. Wie konnten sie nur? Das arme Ding!
    Wenn also der Arzt sagte, Gesa solle für ein paar Tage im Haus

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