Fischer, wie tief ist das Wasser
mit Lehrstuhl an der Medizinischen Hochschule Hannover, ein Selfmademan und eine Koryphäe auf dem Gebiet der
Neuro-Pharmazie»,
stand unter dem Foto, auf dem ein ungewöhnlich aussehender Mann abgebildet war.
Ein gerades, fast rechteckig wirkendes Gesicht mit der unbeholfenen Frisur eines Wissenschaftlers, große, extrem aus den Höhlen tretende Augen und hochgezogene Mundwinkel, denen man nicht ansehen konnte, ob sie nun ein unterdrücktes oder ein gequältes Lachen hervorbringen sollten.
Eine böse Ahnung beschlich mich: Was hatte ein begabter Neurologe mit unseren Kindern, mit Liekedeler zu tun?
Ich wollte weiterblättern, doch das Telefon klingelte.
«Hier ist Henks Mutter, Malin Andreesen.»
«Frau Andreesen?» Ich wurde ein wenig wütend, erst hatte ich tagelang auf ihren Anruf gewartet, dann meldete sie sich ausgerechnet jetzt, wo ich mal ein paar Minuten in geheimen Akten herumschnüffeln wollte. «Wo stecken Sie denn? Ich habe mir ehrlich gesagt ein wenig Sorgen gemacht, weil Sie sich nach unserem letzten, etwas unerfreulichen Gespräch überhaupt nicht mehr …»
«Aber ich habe Ihnen doch im Brief geschrieben, dass Henk und ich nach Juist gefahren sind.»
«Aha?», stutzte ich.
«Ich hoffe, Sie nehmen meine Entschuldigung an, dass ich vor einer Woche so … so überspitzt reagiert habe?»
Auf meinem Schreibtisch lag kein Schreiben, in dem sie das Fehlen ihres Sohnes erklärte und, was noch viel wichtiger war, ihre Anschuldigungen, die so unrecht ja gar nicht gewesen waren, entschuldigte. Doch ich behielt diese Tatsache für mich, denn ihre Stimme am Telefon klang freundlich und aufgeschlossen. Sie schien wieder Vertrauen gefasst zu haben, warum sollte ich sie erschrecken, wenn ich behauptete, der Brief habe mich nie erreicht?
Und auch als sie mich fragte, was die gerichtsmedizinische Untersuchung der toten Jolanda Pietrowska ergeben hatte, log ich ein wenig, um ihren Argwohn nicht erneut zu schüren. Nun, vielleicht war es auch keine Lüge, nur ein Verheimlichen der vagen Ungereimtheiten, die Ben mir in den Kopf gesetzt hatte. «Ein bedauerlicher Unfall, es hätte jedem passieren können. Ihr Henk trägt keine Schuld daran, bitte richten Sie ihm das aus.»
Ich hatte noch nicht ganz ausgesprochen, da stand Veronika Schewe in der Tür, sie hatte nicht angeklopft, zumindest nicht laut genug, als dass ich es hätte hören können. Herein hatte ich auf keinen Fall gesagt. Mir wurde eiskalt vor Schreck, ich hatte keine Zeit, den Ordner auf meinem Schreibtisch unauffällig zusammenzuklappen, also schob ich schnell ein leeres Blatt darüber und notierte mir Details aus dem Telefonat mit Malin Andreesen.
«Es geht ihm immer noch nicht so gut? Ach ja?» Ich kritzelte drauflos, Dr. Schewe legte den Kopf schräg, um mitlesen zu können.
Trifft sich nicht mit Freunden. Bleibt apathisch zu Hause im Garten. Isst kaum etwas. Klagt über Kopfschmerzen. Punkt.
«Schöne Grüße an Henk, er fehlt uns sehr», flötete ich zur Verabschiedung in den Hörer, dann legte ich auf und schaute Dr. Veronika Schewe direkt ins Gesicht. Es passte mir gar nicht, dass sie einfach so in mein Zimmer kam. Doch da ich mich heute selbst nicht immer ganz an die Regeln gehalten hatte, schluckte ich meinen Ärger unbemerkt hinunter.
«Das war Frau Andreesen, sie ist zurzeit mit Henk auf Juist und sie behauptet, sein Fehlen bereits bei uns entschuldigt zu haben. Also, ich weiß nichts davon», sagte ich beiläufig. Sie wich meinem Blick aus und ich nutzte diesen kurzen Moment, um die verräterische Mappe zuzuklappen und zur Seite zu legen.
«Also, bei mir ist kein Brief eingegangen», sagte sie schließlich so gekonnt beiläufig, dass ich sofort aufhorchte und mir bewusst wurde, ihr nichts von einem Brief erzählt zu haben. Malin Andreesen hätte ihren Sohn telefonisch, per Fax oder sonst wie entschuldigen können. Ein Brief war genau genommen sogar sehr umständlich und ungewöhnlich für diesen Zweck. Wenn mich nicht alles täuschte, dann hatte Dr. Schewe sich soeben verraten, und ich konnte mir keinen Reim darauf machen, warum sie meine Post unterschlug. Doch meinen Verdacht sollte ich wohl besser erst einmal für mich behalten.
Sie beugte sich über meinen Schreibtisch und stützte sich mit den Händen ab. «Frau Leverenz, wir bekommen ständig Anrufe, in denen sich alle möglichen Leute nach dem Tod von Jolanda Pietrowska erkundigen. Können Sie vielleicht eine Presseerklärung formulieren, aus der hervorgeht,
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