Fischer, wie tief ist das Wasser
bleiben, dann wurde es so gemacht, und wenn man sie dabei in einen Geräteschuppen einsperren musste. Und das am Tag des Kartoffelfeuers. Gesa hätte heulen können vor Wut. Eigentlich war sie schon zu alt für diese Art von Abenteuerspielen, es war auch nicht das Lagerfeuer, dem sie hinterhertrauerte. Es war dieses Nebeneinandersitzen, eng an eng, ein Kreis, in dem man jedem in die Augen sehen konnte. Es war schon komisch mit den anderen Kindern bei Liekedeler. Einerseits mochte sie sie nicht, spielte nur selten mit, versteckte sich vor ihnen und spionierte ihnen hinterher, weil es wichtig war, zu schauen, ob jemand besser war als sie. Andererseits waren die Kinder bei Liekedeler die einzigen, die sie hatte. Das, was «Freunden» am nächsten kam. Gerade an solchen Tagen wie dem des Kartoffelfeuers fühlte sich Gesa irgendwie dazugehörig, und vielleicht hätte sie auch das Glück gehabt, einen Platz neben Dr. Schewe zu ergattern. Gesa fand, dass der Abend vom Kartoffelfeuerder wunderbarste Abend im ganzen Jahr war. Und sie saß im Geräteschuppen fest. Was sollte sie tun?
Alles war alt in diesem Verschlag. Das Mauerwerk zu ihrer Rechten bröselte, als wären die Fugen mit nassem Sand gefüllt. Gesa schaute sich um, griff nach einer rostigen Feile und rieb zwischen den Backsteinen. Grauer Staub rieselte auf den Boden, doch sie merkte schnell, dass es keinen Zweck haben würde, sich auf diese Art zu befreien. Die gegenüberliegende Seite war nur bis Hüfthöhe gemauert. Früher musste hier mal ein Viehstall gewesen sein, ein Verschlag für Schafe oder Heidschnucken, den man dann bis oben hin mit einer Bretterwand geschlossen hatte. Rote, krümelige Nägel saßen im faserigen Holz, Gesa setzte die Feile unter einen rostigen Stiftkopf und hebelte ihn ein Stück heraus, doch dann brach die Spitze der Feile ab und Gesa setzte sich frustriert in ihr unbequemes Bett aus gelbem Stroh.
Sie musste hier heraus. Sie wollte zu den anderen ins Liekedeler-Haus. Sie wollte Kartoffeln aus dem Feuer holen und so tun, als sei ihr die Schale zu heiß, damit Dr. Schewe sie für sie pellte. Sie wollte sich mit Robert Lindkrug über Insekten unterhalten und ihretwegen auch mit Okka Leverenz. Gesa spürte ein drückendes Gefühl unterhalb der Brust, es lag auf ihrem Bauch wie eine schwere Decke und machte ihr das Atmen schwer. Es war Heimweh. Gesa hatte schon davon gehört, sie hatte in Kinderbüchern darüber gelesen, doch sie hatte es bislang für ziemlichen Quatsch gehalten. Bis heute. Bis zu diesem Moment, wo sie in einem stinkenden Stall festsaß und nicht nach Hause konnte. Sie gehörte dorthin, dort in den Garten auf dem Hügel, sie wollte Holz sammeln und sich mit den anderen Kindern zanken, die Hosen zerreißen und die Hände verschmieren. Alles das fand heute ohne sie statt. Sie musste hier raus.
Dort hinten lag etwas. Gesa stand auf und ging in die Ecke neben der Tür. Unter der Werkbank lag ein Ding aus Metall mit einem hellblauen Schlauch, sie hatte es schon mal bei ihrem Bruder gesehen und wusste, was man damit anstellen konnte. Gesa versuchte erst, sich hinzuknien, doch die Arme waren zu kurz. Sie musste sich flach auf den Bauch legen, dann robbte sie ein paar Zentimeter nach vorn und streckte den Arm aus, so lang sie konnte. Spinnenweben und spitzer Staub krochen unter ihren Pulloverärmel, als sie über den schmutzigen Boden scheuerte, doch endlich gelangten ihre Fingerspitzen ans Ziel, sie bekam den Schlauch zu fassen und versuchte, das Ding hervorzuziehen. Es verhakte sich an einer Kante der Werkbank und Gesa überlegte kurz, mit voller Kraft daran zu ziehen, doch sie durfte es nicht beschädigen, sonst wäre es nutzlos. Also schob sie auch den zweiten Arm unter das Holz und legte ihren Kopf flach in den Schmutz, sodass die Wange die Kälte des Steinbodens spürte und sie Dreck in die Nase bekam. Doch sie musste dieses uralte Ding zu greifen bekommen. Hoffentlich funktionierte es noch.
Es war ein kleiner Gasbrenner. Es war ihre einzige Chance.
Ich hatte das Büro erreicht, ohne dass mich einer mit dem Ordner unter dem Pullover gesehen hatte. Ich setzte mich an den Schreibtisch und schlug die Mappe auf, vorsichtshalber legte ich eine andere, leere Akte um den Umschlag herum, damit ich nicht beim heimlichen Lesen entwendeter Unterlagen erwischt wurde, falls jemand mein Büro betrat.
Ein Zeitungsausschnitt lag ganz obenauf.
«Prof. Dr. Birger Isken, Vorstandsvorsitzender der ‹inPHARM AG› Hannover
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