Fischer, wie tief ist das Wasser
gefangen halten, er würde ihr nie die Augen verbinden und sie zwingen, immer auf einer harten Pritsche zu liegen. Nur wenn sie aufs Klo musste, durfte sie aufstehen, und dann pinkelte sie in einen Plastikeimer, dessen harter Rand ihr scharf in den Hintern schnitt. So etwas würde Sjard Dieken ihr nicht antun, da war sie sich sicher.
Obwohl, sie hatte sich auch in Okka Leverenz getäuscht. Und das war der Anfang vom Ende gewesen.
Sie kannte das Gefühl, gefangen zu sein. Sie war quasi damit aufgewachsen, dass das Leben aus eingeschränkter Freiheit bestand. Doch die letzten Stunden, Tage oder wie lang auch immer sie bislang hier ausgehalten hatte, übertrafen alles. Es war nicht zu vergleichen mit ihrer Kindheit, als sie unter dem Reetdach ihres Elternhauses vor sich hin lebte und aus Langeweile die Steine der Scheunenwand gezählt hatte. Es war nicht zu vergleichen. Damals hatte sie noch gar nicht gewusst, wie schön das Leben sein konnte. Da war es ihr egal, ob etwas danebenging oder so. Nun war es anders, sie wusste, dass es noch unendlich viel für sie zu entdecken gab, nun wollte sie leben. Mit allen Mitteln.
«Du wirst gleich Besuch bekommen», sagte der eine. Sie hatte schon die ganze Zeit versucht, ihn zu erkennen, doch die Stimme war ihr fremd und auch die Geräusche seiner Bewegungen. Sie beschloss, gar nicht erst auf seinen Satz zu reagieren. Sie bekam Besuch? Von wem, um Himmels willen? Aber es war besser, sich die Aufregung nicht anmerken zu lassen, sondern so zu tun, als sei ihr alles egal.
«Willst du gar nicht wissen, wer gleich kommt?», bohrte der eine nach.
Gesa schüttelte den Kopf. Ihr Plan schien zu klappen.
«Nun hör mir mal zu, Kleine. Du brauchst keine Angst zu haben, wirklich nicht. Vielleicht klingt es ein wenig unglaubwürdig, weil wir dich ja schließlich gefesselt haben und du eine Augenbinde tragen musst …»
«Ist mir doch egal», warf sie trotzig ein.
«Es ist bald vorbei, Gesa. Nur noch ein paar Minuten. Es geschieht nur zu deiner eigenen Sicherheit, dass wir dich so behandeln müssen.»
Gesa wurde sehr wütend, von wegen «eigene Sicherheit»! Ihre Armgelenke schmerzten höllisch, weil sie die Hände in einem unnatürlichen Winkel halten musste. Außerdem hatte sie einfach Angst, wollte sie aber nicht zeigen. «Wer denkt sich einen solchen Schwachsinn aus? Alles zu meiner eigenen Sicherheit? Soll ich mich totlachen oder was?» Mühsam drehte sie sich auf die andere Seite, von der sie vermutete, dass dort die Wand war. Sie sollten nicht sehen, dass sie schon wieder weinen musste.
«Ich kann dich verstehen», sagte eine Stimme. Es war der andere. Der, der bislang kein Wort gesagt hatte. Gesa kannte diese Stimme, ganz genau kannte sie sie, sie klang vertraut, angenehm warm. «Du bist intelligenter, als wir denken, und du hast Angst, dass wir dich töten müssen, damit du uns nicht verrätst. Ist es das?»
«Jetzt weiß ich, wer Sie sind, Herr Doktor!», antwortete Gesa. Es war nicht Sjard, den sie gerochen hatte. Aber es war ein Mann, den sie nur im Beisein von Sjard besucht hatte, daher die Verknüpfung in ihrem Kopf. Es war ihr Kinderpsychologe. Sie hatte ihn nicht mehr getroffen, seitdem Henk Andreesen ins Haus gekommen war. Doch sie hatte ihn immer gemocht. Was hatte er in aller Welt davon, sie zu entführen?
«Siehst du, nun weißt du auch, wer ich bin. Dann brauchst dudir ja keine Gedanken mehr zu machen, du kennst mich doch, nicht wahr? Du weißt, dass ich ein guter Mensch bin, der keinem Kind etwas antun könnte.»
«Wenn Sie meinen, dass ich so intelligent bin, warum reden Sie dann mit mir wie mit einem Kindergartenkind, hmm?»
Auf einmal spürte sie, wie warme, sichere Hände ihr das Tuch von den Augen schoben. Sie konnte die Lider nicht gleich öffnen, sie waren verklebt vom vielen Weinen und zudem stach das Tageslicht in ihre Pupillen.
«Du hast ja Recht, Gesa Boomgarden. Wir können mit dir sprechen wie mit einem erwachsenen Menschen. Und das ist auch gut so. Ich denke nämlich, dass ein normales zwölfjähriges Mädchen nichts von dem verstehen würde, was ich dir jetzt erzählen möchte.»
Gesa drehte sich um und blinzelte in den Raum. Sie hatte sich getäuscht, es war kein Bauwagen, kein Container, in dem sie sich befand. Es war eine Art Labor, ein winziges Zimmer, in dem verschiedene Messgeräte standen, einige kannte Gesa aus dem Physikunterricht, einige waren ihr fremd und flößten ihr ein wenig Angst ein. Breitbeinig saß der Kinderpsychologe
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