Fischer, wie tief ist das Wasser
van Looden kam mir ein paar Schritte entgegen. Er sah nicht so aus wie auf den zahlreichen Zeitungsbildern neben den regelmäßig in der Lokalpresse erscheinenden Artikeln über sein erfolgreiches Familienunternehmen. Er sah netter aus. Die Hand, die er mir entgegenstreckte, sah mehr nach einem Arbeiter aus als nach einem Geschäftsmann, und das machte ihn mir sympathisch. «Es freut mich, Sie kennen zu lernen, Frau Leverenz. Mein Sohn Dirk hat mir von Ihnen erzählt, er mag Sie.» Er lächelte mich an. «Wie Sie sich denken können, bin ich nicht ganz zufällig hier.»
Nein, das hatte ich mir nicht denken können. Ich wich instinktiv einen Schritt zurück und fasste Henk bei der Hand.
«O nein, jetzt habe ich Sie erschreckt, natürlich!» Er zuckte entschuldigend mit den Schultern. «Ich, nun, wie soll ich es sagen, ich mache mir seit längerem Sorgen um meinen Dirk. Er hat sich verändert, seit er bei Liekedeler ist. Sie wissen, wovon ich spreche?»
«Nein, ich habe keine Ahnung», entgegnete ich. «Entschuldigen Sie, ich möchte nicht unhöflich sein, aber wir werden hier am Hafen erwartet und ich lasse ungern jemanden warten. Besuchen Sie mich doch nächste Woche in meinem Büro.»
Ich schaute mich um, der Menschenknoten hatte sich gelöstund ich hatte endlich ein wenig Übersicht über den Hafen. Es standen nur noch wenige Taxen bereit. Wenn ich mich nicht beeilte, dann würde der Fahrer, der mich abholen sollte, davonfahren.
«Ach ja, Ihr Vater. Ich soll Sie von ihm grüßen, wissen Sie? Wir haben heute Morgen miteinander telefoniert. Er hat mich gebeten, Sie heute abzuholen.»
«Er hat Sie gebeten?»
«Nun, Sie wissen doch, sein Termin in Spitzbergen. Er hatte es eilig, sein Flug geht heute Abend ab Hamburg, also hat er mich gefragt, da ich ohnehin mit Ihnen reden wollte. Es macht Ihnen doch hoffentlich nichts aus?»
Ein altbekanntes Gefühl von Trotz machte sich in mir breit. Wenn es wirklich so war, wenn mein Vater mal wieder in die Welt hineinreiste und mich allein ließ, gerade jetzt, gerade heute, o ja, dann tat es weh. Doch es passte. Es passte leider zu gut. Ich konnte nicht umhin, van Looden jedes Wort zu glauben, denn es sprach viel zu viel dafür, dass mich mein Vater wieder einmal im Stich gelassen hatte.
«Es ist schon in Ordnung», log ich. Kurz überlegte ich, mir dennoch lieber ein Taxi zu nehmen. Sicherheitshalber. Ich war auf der Hut. Das war ich wirklich, doch die lange Taxi-Reihe von vorhin hatte sich in der Zwischenzeit auf einen Mietwagen reduziert, und vor dem stand eine alte Frau mit Gehhilfe. Ich müsste ewig warten, bis ein anderes Taxi käme. Und die Zeit hatte ich nicht.
«Also, was ist?», fragte van Looden und hielt die Tür seines Wagens einladend geöffnet.
«Henk, wo ist deine Mutter? Sie ist uns im Gewühl davongelaufen.»
Henk schaute nur kurz, dann hatte er die in kräftigem Blau eingehüllteGestalt entdeckt und zeigte auf sie. Malin Andreesen stand mit dem Rücken am Fahrkartenhaus und starrte wütend zu uns herüber.
«Was ist los mit ihr?», fragte ich und winkte ihr zu. Doch sie blieb regungslos stehen.
«Sie wird sich schwer tun, zu mir in den Wagen zu steigen, schätze ich», sagte van Looden etwas resigniert.
«Ach ja, sie hat mir erzählt, dass sie mal bei Ihnen gearbeitet hat und dass es nicht gerade ihr Traumjob war, in Ihrem Vorzimmer zu sitzen. Ist das der Grund? Ist doch schon ewig her, oder nicht?»
«Wartet, ich hole sie», sagte Henk und rannte los.
«Vielleicht sollten Sie wissen, dass Malin Andreesen einen ziemlich guten Grund hat, nicht zu mir in den Wagen steigen zu wollen», sagte van Looden ruhig. «Ich bin Henks Vater.»
Ich starrte ihn an, ganz unverblümt. Van Looden war also der verheiratete Kindsvater, der sich mit Geld aus der Verantwortung gezogen hatte! Doch ich sagte nur: «Aha.»
«Und vielleicht verstehen Sie jetzt auch, weshalb ich so besorgt bin. Es geht mir nicht nur um Dirk, sondern auch um Henk. Ich habe zwei Söhne bei Liekedeler. Und deshalb sollten wir uns mal unterhalten. Das bin ich meinen beiden Jungs schuldig.»
«Vor allem Henk», sagte ich.
«Ja, vor allem Henk.»
Manchmal war Gesa sich hundertprozentig sicher, dass Sjard Dieken im Raum war. Sein Duft tanzte leise zwischen dem Gestank kalt gewordenen Essens und ihrem eigenen Körpergeruch, vielleicht war es Angstschweiß.
Doch dann wiederum war ihr klar, dass der Stille, der nie einWort sagte, jemand anderes sein musste. Sjard Dieken würde sie niemals
Weitere Kostenlose Bücher