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Fischerkönig

Fischerkönig

Titel: Fischerkönig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wildis Streng
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flach im hohen Gras lag, raste sein Puls. Er spürte den Dreck in seinem Ohr, fühlte Käfer, die auf seiner Haut hin und her krabbelten. Er war unendlich froh, dass das Gras um das Wohngebiet Hirtenwiesen herum so hoch war. Er wagte nicht aufzusehen, weil er genau wusste, sie suchten ihn. Als Nächstes würden sie sich um die Wiesen kümmern, wenn sie ihn in den Häusern nicht gefunden hatten, das wusste er. Er konnte also nicht ewig hier liegen bleiben. Seine Gedanken überschlugen sich. Walter. Irina. Viktoria. Die arme Kleine. Seine Mutter in Russland, was würde sie dazu sagen, wenn ihr Alexander in Deutschland als Mörder verhaftet werden würde! Gerade kroch eine Spinne über sein Bein, eine mit langen, dünnen Beinen, ein Weberknecht. Er konnte nicht ewig hier liegen bleiben. Vorsichtig bewegte er sich, so langsam, als wolle er prüfen, ob sein Körper ihm noch gehorchte. Augenblicklich durchzuckten Schmerzen seine steifen Gelenke und die eingeschlafenen Glieder. Er richtete sich trotzdem halb auf und spähte über den Horizont der Wiese. Sie suchten ihn, das war sicher, auch wenn er im Augenblick niemanden sah. Aber er musste hier weg, so viel stand fest. Und so zog er seine Lederjacke aus. Es war seine Lieblingsjacke, eigentlich auch seine einzige, und es tat ihm unendlich leid, dass er sie hier zurücklassen musste. Aber es ging nicht anders, wenn er nicht in den Knast wollte oder sogar Schlimmeres. Außerdem waren seine Haare auffällig. Blond, hellblond, gleißend hell in der Sonne, wie ein Signal. Zu auffällig. Eine Idee durchzuckte ihn, und er kramte in seiner Hosentasche nach dem riesenhaften Taschentuch, das seine Mutter ihm geschenkt hatte und das er immer bei sich trug. Er benutzte es so gut wie nie, es war nur eine Art Talisman. Seine Mamutschka hatte seine Initialen hineingestickt in der Annahme, dass jeder erwachsene Mann so ein Taschentuch brauchen würde. Nun konnte er es tatsächlich gut brauchen, sehr gut sogar. Er rollte das Tuch zusammen und benutzte es als Piratenkopftuch, jener seltsamen Mode von vor wenigen Jahren folgend, während der coole Jungs so etwas getragen hatten. So ginge es, seine Haare waren nicht mehr zu erkennen, die Jacke war weg, sein T-Shirt dunkelblau. Wenn sich die Bullen sein Gesicht nicht ganz genau eingeprägt hatten, so hatte er jetzt eine reelle Chance.

    Irina war außer sich. Der Anruf von Alex war kurz gewesen. Und es war nicht die übliche Nummer auf dem Display erschienen, er hatte von einer Telefonzelle aus angerufen. Sie suchten ihn. Das war nicht gut. Das war schlimm. Furchtbar sogar. Ihr Blick wanderte zu Viktoria, die versonnen auf ein kleines, buntes Glockenspiel einschlug und dabei misstönende Laute produzierte. Wenn er nur vorsichtig war. Denn wenn sie ihn erwischten, war alles aus. Dann würde die ganze Sache auffliegen, und das wäre eine Katastrophe. Sie hatte so viel dafür geopfert, fast alles, nur für ihn, für Viktoria. An sich selbst hatte sie schon lange nicht mehr gedacht. Heiße Wut stieg in ihr auf, kochte hoch und drohte überzusprudeln. Hätte er doch nur besser aufgepasst. Wäre er verschwunden, als noch Zeit dafür war. Kein Mensch wäre ihm auf die Spur gekommen, kein Mensch. Nachdenklich sah sie aus dem Fenster und bemerkte, dass sich drüben bei Sackler die Vorhänge bewegten, als der Alte aus ihrem Blickfeld hechtete. Schuld war nur er, der notgeile Spanner. Wutentbrannt stand sie auf und zog die Vorhänge mit einem Ratsch zu. Ob es sich auch so angehört hatte, als ihrem Walter die Gurgel zugeschnürt worden war? Ihre Schwägerin, die alte Morgner, hockte ihr wegen der Beerdigung auf der Pelle. Dass sie sich nicht lumpen lassen solle beim Grabstein, dass es sowieso sein Geld sei und nicht ihres, und dass sie eh alles verlieren würde, wenn rauskäme, wer den Mörder angeheuert hatte. Sie hatte der bösen Frau die Tür vor der Nase zugeknallt. All das war nicht wichtig. Wichtig war, dass Alexander verschwand. Und zwar so schnell wie möglich.

    Lothar Holderberg betrachtete zufrieden sein Werk. Er hatte sich etwas ganz Besonderes zum Thema ›Märchenland‹ einfallen lassen. Mit grünen, roten und weißen Bechern hatte er eine Landschaft mit Fliegenpilzen arrangiert. Aber nicht lauter gleich große, sondern unterschiedlich in Größe und Höhe angeordnet, sodass tatsächlich ein räumlicher Eindruck entstehen würde. Und wie er jetzt so zurücktrat und sein Werk mit zusammengekniffenen Augen begutachtete, musste er zugeben,

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