Fischerkönig
dass er schon talentiert war. Der Siegler hatte sich nie am Lichterfest beteiligt, obwohl die Irina sicher gern mitgemacht hätte. Natürlich war er erschienen, in den letzten drei Jahren mit der gequält lächelnden Russin an seiner Seite und dem kleinen und überaus blonden und süßen Töchterlein auf dem Arm. Man musste sich ja blicken lassen als Ortsvorsteher. Er war dann umhergewandert wie Graf Rotz und hatte den Leuten anerkennend auf die Schultern geklopft. Dabei hatte er sich in Wahrheit einen Scheiß für das Lichterfest interessiert, wie er sich sonst auch für wenig anderes außer sich selbst und vielleicht noch für Geld interessiert hatte. Der Mann hatte eindeutig verdient, was passiert war, und nicht nur wegen des Lichterfests. Holderberg zündete sich eine Zigarette an. Schön würden seine Pilze aussehen, sehr schön. Er notierte auf einem Karoblatt die genaue Lage jedes Bechers im Gestell. War ja aktuell nur ein Probeaufbau. Sowohl er als auch Siegler waren Goldbacher, echte Goldbacher, von Kindheit an. Und da war es direkt widernatürlich, wenn man nicht so etwas wie einen gesunden Nationalstolz auf sein Dorf und dessen Bräuche entwickelte. Fast schon pervers war das. Charakterlos bis zum Gehtnichtmehr. Und noch krasser war, wenn man nicht nur die Bräuche nicht respektierte, sondern sie auch noch sabotierte, ja, ganz abschaffen wollte. Nicht einmal anderen gönnen wollte, das Brauchtum auszuüben, wie es seit Jahrzehnten war. Er, Lothar Holderberg, hatte diesen gesunden Nationalstolz, Goldbacher Nationalstolz, ohne dabei zu übertreiben. Und das Lichterfest durfte nicht sterben, dann schon lieber der Siegler.
»Also, am Sonntag kam tatsächlich so ein Kinderschänder-Tatort«, stellte Lisa fest. Heiko nippte an seinem Kaffee. Es war strahlend schönes Wetter, und sie saßen im Kaffee Kett, um eine kurze Denkpause einzulegen. »Stimmt, das hab ich auch in der TVSuper gelesen«, bestätigte Heiko und fuhr dann fort: »Was das Alibi wiederum gewaltig entwertet.« Lisa löffelte Vanilleeis aus ihrem Eiskaffee, aufgrund der hohen Temperaturen war sie von Latte Macchiato auf die kalte Variante umgestiegen. »Andererseits ist doch die Wahrscheinlichkeit, dass der Herr Holderberg den Herrn Siegler wegen des Lichterfestes umgebracht hat, recht gering«, gab Lisa zu bedenken. Heiko stimmte zu. Das war tatsächlich wenig plausibel. »Bleibt immer noch der geheimnisvolle Lederjackenmann. Wenn du mich fragst, ist das eine heiße Spur, eine ganz heiße.«
Lisa schlürfte geräuschvoll Kaffee durch ein hellrotes Röhrle, das exakt die Farbe ihrer Lippen hatte. »Auftragskiller wohnen doch nicht in den Hirtenwiesen und kaufen im Handelshof ein.«
»Auch Auftragskiller brauchen was zu essen«, widersprach Heiko.
»Na«, machte Lisa. »Aber wenn du doch gerade eben einen abgemurkst hast, dann richtest du dich doch nicht an dem Ort häuslich ein, sondern machst, dass du Land gewinnst.«
Frau Kett brachte in dem Moment zwei frische Hefehoraffen, Lisas und Heikos Lieblingsgebäck. Heiko dankte und biss herzhaft in seinen Horaff. Nach gründlichem Kauen schlug er vor: »Außer, der Killer hätte eine persönliche Beziehung zu Frau Siegler. Vielleicht wäre er sogar ihr Geliebter?«
»Also, dass man bei dem Ehemann zu einem Geliebten tendiert, finde ich nur nachvollziehbar«, meinte Lisa.
»Wundert mich sowieso, dass die mit dem Siegler zusammengeblieben ist. Viele Katalogfrauen lassen sich doch nach drei Jahren scheiden, dann haben sie automatisch die Staatsbürgerschaft und werden nicht mehr heimgeschickt.«
»Vielleicht wegen der Kleinen?«, überlegte Lisa. »Vielleicht hätte er ihr die Kleine weggenommen?«
Heiko schüttelte den Kopf. »Überleg doch mal: Selbst, wenn der Siegler seine Tochter geliebt hat. Was soll denn so einer mit einem dreijährigen Kind anfangen? Der weiß doch gar nicht, wie man mit so einem Winzling umgehen muss.«
Lisa biss nun ebenfalls von ihrem Horaff ab, kaute und machte »Mmmmh«. Dann verengten sich ihre blauen Augen zu schmalen Schlitzen und sie unterstellte: »So, du findest also, Kindererziehung ist Frauensache, ja? Soll ich vielleicht nach Hause gehen und kochen, waschen und bügeln? Am besten noch in einem dieser hässlichen Kleiderschurze, ja?« Wie so oft, war Heiko sich nicht ganz sicher, ob Lisa ihn auf den Arm nahm oder es ernst meinte. Also musterte er sie erst prüfend und senkte dann, als er zu keinem Ergebnis gekommen war, eine Entschuldigung murmelnd, den
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