Fischland Mord - Küsten-Krimi
sie abschließend gebeten hatte, am
nächsten Tag in Ribnitz auf dem Polizeirevier ihre Aussage protokollieren zu
lassen – und sie hatte das Gefühl gehabt, dass er sich nicht für diesen
Umstand, sondern für seinen Kollegen entschuldigen wollte.
»Frau … Voß«, wiederholte Kassandra leise. Dietrichs Worte zeigten
deutlich seine Skepsis hinsichtlich der Annahme, sie könnte je etwas
anderes sein als Kassandra Larsen – die Frau aus der Hochglanzwelt
der Reichen und Schönen mit den Designerklamotten und den kupferfarbenen
Haaren, die auf unzähligen Partys getanzt hatte. Eine Zeit lang war sie diese
Frau gewesen, und zu Anfang hatte es sogar Spaß gemacht, als sie frisch
verliebt an Svens Arm hing – ganz das Schmuckstück, zu dem er sie gemacht
hatte. Heute fragte sie sich, was er an ihr gefunden haben mochte. Aber
vielleicht war es gerade das gewesen: ihre Unbedarftheit. Er hatte sie ganz
nach seinen Wünschen formen können. Wie naiv und blöd sie gewesen
war. Sie lief jetzt noch rot an, wenn sie daran dachte. Erst nach
und nach hatte sie Svens Fassade durchschaut und am Ende angeekelt von ihm und
sich selbst die Konsequenzen gezogen.
Wustrow war das exakte Gegenteil von ihrem Leben mit Sven. Eine heile
Welt fernab von allem vermeintlich Glamourösen. Natürlich gab
es nirgends eine wirklich heile Welt, aber diese hier kam dem Sinnbild nahe genug, daran konnte auch ein Heinz Jung nichts
ändern. In Wustrow konnte sie endlich wieder sie selbst sein – mit ihren schulterlangen mausbraunen Haaren, die sie während der Arbeit
zu einem Pferdeschwanz zusammenband, in Jeans und Pullis ohne Firlefanz und
teure Markennamen.
Nachdenklich trank sie einen Schluck Tee. Die selbst gewählte Zurückgezogenheit von den Menschen in Wustrow – mit Ausnahme
von Violetta – barg auch Nachteile. Wenn die Polizei sie ernsthaft
verdächtigte, mit dem Toten etwas zu tun zu haben, hätte sie Freunde und
Unterstützung bitter nötig. Aber Freunde bekam man nicht auf Bestellung, und
außerdem käme es ihr falsch vor, jetzt die Nähe zu suchen, die
sie doch ein Jahr lang vermieden hatte.
Was mochten die Wustrower über sie gesagt haben, als Dietrich und
Menning die Runde machten? Was Heinz Jung von sich gegeben hatte, konnte sie
sich lebhaft vorstellen. Bei den meisten anderen war
sie sich unsicher. Man grüßte nett und wechselte ein paar Worte
über das Wetter, mit dem alten Bruno scherzte sie ab und zu. Aber sonst? Was
dachte die Verkäuferin im Supermarkt über sie? Die Buchhändlerin? Der Juwelier,
bei dem sie hin und wieder reinschaute, wenn sie ein hübsches Bernsteinstück im
Schaufenster entdeckte? Was dachte die Apothekerin, die
Bankangestellte? Was dachte Jonas?
Kassandra trat mit dem inzwischen kalt gewordenen Tee an die
Terrassentür. Es war eine der kürzesten Nächte im Jahr und noch hell draußen,
aber wenn sie jetzt auf die Strandstraße ginge, wäre dort längst
alles ruhig unter den Bäumen entlang der Kapitänshäuser. Auf der
Seebrücke würden außer Bruno noch weitere Angler stehen, während die Ostsee bei
dem milden Wetter in sanften Wellen an den Strand rollte.
»Ich sollte ins Bett gehen«, sagte sie laut. Seit sie hier war,
ertappte sie sich öfter bei Selbstgesprächen. Kein Wunder, dachte sie ironisch,
es ist ja sonst niemand da, mit dem ich reden könnte. Als sie sich umdrehte,
fiel ihr Blick auf die Anrichte mit dem gerahmten Foto ihrer Mutter. Sie war
darauf noch jünger als Kassandra jetzt, aber Kassandra liebte gerade dieses
Bild sehr. Ihre Mutter war vor fünf Jahren gestorben, ihren Vater hatte sie nie
kennengelernt. Sie wusste nicht, ob er noch lebte oder ebenfalls tot war, sie
kannte nicht einmal seinen Namen. Ihre Mutter hatte nie über ihn gesprochen,
auch nicht, als es mit ihr zu Ende ging. Kassandra wusste nur, dass ihre Mutter
schon von einem anderen schwanger gewesen war, als sie Reinhard Voß geheiratet
hatte. An ihren Stiefvater, der zwei Jahre nach der Hochzeit bei einem
Arbeitsunfall auf der Werft in Wismar ums Leben gekommen war, hatte Kassandra
keine Erinnerung mehr. Aus dem Haus, das Reinhard Voß gehört hatte, war nach
der Wende ein kleines Hotel geworden. Kassandra hatte eine Ausbildung zur
Hotelfachfrau absolviert und das Haus gemeinsam mit ihrer Mutter geleitet,
bevor sie Sven Larsen begegnete und ihre Mutter allein weitermachte. Nach deren
Tod hatte Kassandra überlegt, das Hotel zu verkaufen, war aber nach ihrer
Scheidung froh gewesen, sich dagegen entschieden und
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