Fischland-Rache
wollte ihn töten.«
»Aber â¦Â« Kassandra hielt inne, überlegte, kam zu keinem Schluss und stellte ihre Frage doch. »Warum? Warum hat Sascha dir das erzählt?«
»Weil er mich erpressen wollte, als ich diese idiotische Summe, die er verlangt hat, nicht freiwillig zu zahlen bereit war. Er sagte, er habe nichts mehr zu verlieren, er sei am Ende, entweder würde ich ihm helfen, sich zu sanieren, oder er ginge den Bach runter â aber dann nähme er mich mit. âºDeine Schriftstellerkarriere möchte ich sehen, wenn deine Leser hören, was du getan hast. Der arme Junge war auch noch vollkommen unschuldig.â¹ Seine Worte. AuÃerdem glaube ich, es hat ihm eine perverse Genugtuung bereitet, mir die Wahrheit zu sagen. Er wird mir angesehen haben, wie entsetzt ich war, dass er Karin vergewaltigt hat. Entsetzt ist das einzige Wort, das mir dafür einfällt, dabei gibt es nicht mal im Mindesten wieder, was ich fühle.«
Kassandra schluckte. Sie hatte sich nach Karins Brief selbst furchtbar gefühlt â wie viel schlimmer mussten die Tatsachen für Paul gewesen sein. »Und dann?«, fragte sie behutsam.
»Dann? Er hat mich angestarrt, als würde er was Bestimmtes von mir erwarten. Vielleicht dass ich ihn bitte, den Mund zu halten, oder dass ich ihm die Nase ein zweites Mal zertrümmere, ich weià nicht. Wenn ich zugeschlagen hätte, wäre mehr gebrochen als sein Nasenbein. Ich sah diesen Mann an, der vor Ãonen mein Bruder gewesen war, und genau wie in der verschneiten Nacht spürte ich überhaupt nichts. Ich fragte mich, warum ich ihn vor dreiunddreiÃig Jahren nicht durchschaut hatte. Ich wusste doch damals schon, dass Sascha ein furchtbares Arschloch sein konnte. Einige seiner Einstellungen waren mir völlig fremd, er war manchmal regelrecht boshaft â und ich hatte gerade erfahren, dass Erpressung auch zu seinem Repertoire gehörte. Aber Vergewaltigung? Das hätte ich nie für möglich gehalten â nicht nur weil die Mädchen bei ihm Schlange standen. Generell nicht, und nicht in diesem besonderen Fall. Es ging schlieÃlich um Karin. Und er war mein Bruder. Das war einfach undenkbar.«
Kassandra hätte ihm sagen können, wieso Sascha gerade Karin gewollt hatte, aber das würde sie ihm nicht antun. Von ihr würde er niemals erfahren, was in Karins Brief stand. Unterdessen hatte Paul weitergesprochen.
»Als ich nicht auf seine neueste Erpressung reagierte, schien er ⦠Es ist schwer zu beschreiben. Kann jemand gleichzeitig enttäuscht und befriedigt sein? Er sagte, ich solle es mir überlegen und wo ich ihn finden könne. Abgang Sascha.«
In Kassandras Kopf herrschte ein heilloses Durcheinander. Es gab noch so viele Fragen â aber das war zweitrangig. Zuerst musste sie ihre Gefühle sortieren und stellte dabei erstaunt fest, dass es gar nichts zu sortieren gab. Sie hatte Paul gegenübergesessen, getrennt durch den Tisch zwischen ihnen, was seine leicht durchschaubare Absicht gewesen war. Sie erhob sich und ging zu ihm hinüber. Er stand ebenfalls auf, und zum ersten Mal, seit er begonnen hatte zu erzählen, zog er sich weit von ihr zurück. Nicht nur räumlich, da war etwas in seinen Augen, was sie bat, Abstand zu halten. Sie blieb stehen.
»Heinz glaubt zu wissen, was in dem Eiswinter passiert ist«, sagte sie, »jedenfalls habe ich das aus seinen Worten bei eurer Unterhaltung neulich geschlossen. Ich schätze, Sascha hat ihm eine dritte Version der Geschichte erzählt und behauptet, der Tod von Markus Brehmer ginge auf dein Konto. Er drehte ja anscheinend gern alles so, wie es ihm gerade passte. Weshalb hast du Heinz nicht die Wahrheit gesagt?«
»Was macht das für einen Unterschied? Was ich getan habe, war nicht besser. Ich habe geholfen, einen Mord zu vertuschen.« Sie wollte ihn unterbrechen, doch er schnitt ihr das Wort mit einer Handbewegung ab. »Selbst wenn ich das damals nicht wusste, ändert das nichts an den Tatsachen. AuÃerdem lag Heinz mit seiner Einschätzung nicht ganz falsch â ich könnte wahrscheinlich einen Menschen töten. Ich erinnere mich zu deutlich an das Gefühl, das ich hatte, als Sascha mir seine Lügengeschichte über Markus Brehmer auftischte. Ich konnte seine vorgegebene Wut körperlich nachvollziehen, ich weià nicht, was ich getan hätte, wenn ich dem Mann
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