Fischland-Rache
Flur ausgingen, standen sperrangelweit auf. Weder in der Küche noch im winzigen Bad verbarg sich jemand. Die anderen beiden Türen waren nur angelehnt. Wie eben stieà Paul die erste auf. Kassandra musste sich auf die Zehenspitzen stellen, um über seine Schulter hinweg in einen sehr schlicht eingerichteten Schlafraum zu sehen â ein Bett, ein Schrank, eine Kommode, sonst nichts, nicht mal ein Bild an der kahlen Wand. Die Schranktüren standen offen, die Kommode ebenfalls, jemand hatte beides durchsucht. Die Polizei oder der Einbrecher?
Paul trat wieder auf den Flur, wo sein Blick kurz einen groÃen Art-déco-Spiegel streifte, der in der ansonsten leeren Diele hauptsächlich die Düsternis reflektierte, und stieà die letzte Tür auf. Auch im Wohnzimmer waren Schränke und Schubladen geöffnet, Sofakissen lagen auf dem Boden, und selbst ein alter Plattenschrank hatte die Aufmerksamkeit desjenigen erregt, der hier zugange gewesen war. Die Schallplatten wiesen immerhin auf die Persönlichkeit des Menschen hin, der hier gelebt und offensichtlich klassische Musik und französische Chansons gemocht hatte. Ansonsten wirkte der Wohnraum genauso steril wie das Schlafzimmer.
Paul bückte sich, um eine der Platten aufzuheben, das Klavierkonzert Nr. 1 von Tschaikowsky.
»Nicht«, warnte Kassandra. »Wir sollten die Polizei rufen und keine Fingerabdrücke hinterlassen.«
Nur langsam richtete Paul sich auf. »Dass er immer noch diese uralte Aufnahme von Tatjana Nikolajewa hatte â¦Â« Er schien sich zu zwingen, sich wieder den wesentlichen Dingen zuzuwenden. »Bevor wir die Polizei rufen, will ich mich hier umsehen. Keine Angst, ich fasse nichts an.« Nachdenklich blieb sein Blick an einem unter dem Fenster stehenden Tisch hängen. »Der Staubverteilung nach zu urteilen, stand da bis vor Kurzem was, vom Format her vielleicht ein Notebook. Hat sicher die Polizei mitgenommen.«
Paul ging von Raum zu Raum, während Kassandra sich fragte, was er empfand. Gerade eben hatte sie den Eindruck gehabt, dass er sich an eine weit zurückliegende Zeit erinnerte, in der er und sein Bruder keine Gegner gewesen waren. Sie versuchte schon länger, sich ein Bild von Sascha zu machen, aber diese Wohnung verwirrte sie nur noch mehr. Sie schien überhaupt nicht zu dem Mann zu passen, den sie, wenn auch nur kurz, kennengelernt hatte. Trotz des momentan herrschenden Chaos war zu erkennen, dass es hier sonst sehr ordentlich war. Zu ordentlich, zu sauber und vor allem absolut unpersönlich für jemanden mit einer solchen Präsenz. Und viel zu klein und einfach für jemanden, der in einem Luxushotel wie dem »Dünentraum« übernachtete.
Paul war im Flur stehen geblieben, wo er den Wandspiegel derart intensiv betrachtete, dass man glauben konnte, er würde sich selbst zum ersten Mal sehen. Fast schien er in seinem eigenen Spiegelbild zu versinken. Kassandra war ihrerseits so in diese seltsame Szene vertieft, dass sie die Schritte drauÃen auf der Treppe viel zu spät bemerkte. Falls der Einbrecher zurückkam, konnte das gefährlich werden.
»Paul!«, zischte sie und wollte ihn in die Küche ziehen.
Zu spät. Die Wohnungstür wurde aufgetreten und knallte gegen die Wand, und noch in derselben Sekunde starrten Kassandra und Paul in die Mündung einer Pistole. Für eine kleine Ewigkeit war es totenstill im Flur.
»Sind Sie von allen guten Geistern verlassen?« Dietrich senkte die Arme, sein Blick wanderte von Kassandra zu Paul, zur aufgebrochenen Tür und wieder zurück. »Verflucht noch mal, ich hatte einen Unfall, bei dem mein Hirn zu Schaden hätte kommen können. Nicht Sie beide!«
»Sie machen ja nette Komplimente.« Paul zog die Schlüssel aus seiner Manteltasche und hielt sie Dietrich hin. »Wir hätten nicht einbrechen müssen, das hat schon jemand vor uns erledigt.«
In Dietrichs Gesicht zeichnete sich Erleichterung ab, er steckte die Waffe weg. »Sie haben Nerven«, sagte er trotzdem. »Statt durch die Wohnung zu spazieren, hätten Sie sofort die Kollegen rufen müssen. Was suchen Sie überhaupt hier?«
»Was ich suche, kann ich Ihnen sagen, wenn ichâs gefunden habe«, antwortete Paul.
»Ja, sicher. Und besten Dank auch«, gab Dietrich spöttisch zurück, »dass Sie schon wieder unsere Arbeit machen wollen. Wie wärâs, wenn Sie uns gelegentlich noch
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