Fischland-Rache
entgegen. Im November war der Kalender zwar übersichtlich, aber rundherum reizvoll: Das Fotogeschäft bot wie jeden Monat Workshops an, auf die Kassandra schon seit einer Weile ein Auge geworfen hatte, die Wustrower Theaterweiber traten mit Seefahrerballaden im Fischlandhaus und in der Bücherstube auf, in der Fischlandkirche fand ein Konzert des Organisten Clemens Meisner statt, das Kassandra und Paul ursprünglich heute hatten besuchen wollen, aber über die Aufregungen ganz vergessen hatten, und Inga Lange warb für eine »Schlemmerwoche spezial«, die am morgigen Montag begann.
Kassandra las das Programm zweimal, bis sie verstand. »Clemens Meisner?« Sie mochte gelegentlich klassische Musik, Meisner war ihr ein Begriff. Allerdings war sie überrascht gewesen, als Paul ihr vor einiger Zeit erzählt hatte, dass Meisner aus Wustrow stammte. Dann erfasste sie die ganze Tragweite dessen, was Paul ihr zu sagen versuchte. »Du meinst, es ist ein bisschen zu viel des Zufalls, dass Meisner gerade jetzt in der Gegend ist? Aber heute ist Sonntag, Sascha wurde schon in der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag ermordet. AuÃerdem â welchen Grund sollte Meisner heute noch haben, Sascha zu töten? Das ist doch alles ewig her, und es sieht ja nicht so aus, als hätte er damals Schaden genommen. Oder weiÃt du Näheres?«
»Noch nicht«, murmelte Paul, der inzwischen sein Notebook hochgefahren hatte und die Konzerttermine des Organisten googelte. »Hiernach hat seine Tour im Oktober begonnen. Er hat zuerst Süddeutschland abgefrühstückt, wo er lebt, und sich anschlieÃend in den Norden vorgearbeitet. Letzten Sonntag war er in Hamburg, Dienstag in Lübeck, Donnerstag in Wismar, Freitag in Rostock â und heute hier. Fällt dir was auf?«
»Er hatte Mittwoch keinen Auftritt«, stellte Kassandra fest. »Dietrich hat nicht gesagt, wann genau Sascha getötet wurde, oder?«
»Nein.« Paul griff nach seinem iPhone und tippte im Adressverzeichnis auf Dietrichs private Mobilnummer. Niemand meldete sich. Er bat ihn auf der Mailbox kurz um Rückruf, sah auf die Uhr und stand auf. »Wenn wir uns beeilen, schaffen wirâs noch rechtzeitig in die Kirche. Ich geh mich umziehen.«
Paul trug selten was anderes als Jeans, T-Shirts, legere Hemden oder Pullover. Als er wieder herunterkam, verschlug es Kassandra den Atem. Sie hatte ihn natürlich schon im Anzug gesehen, aber diese Kombination war neu. Er steckte in einer schwarzen Jeans, einem schwarzen Hemd mit schwarzer Krawatte und schlüpfte dazu gerade in ein schwarzes Jackett. Paul bemerkte ihren Blick, deutete ihn aber falsch. Ob absichtlich oder unabsichtlich, konnte sie nicht sagen.
»Zu dunkel? Ich denke, es ist angemessen, schlieÃlich hab ich gerade meinen Bruder verloren.«
»Kann â¦Â« Kassandra räusperte sich. »Glaubst du, ich kann so bleiben, wie ich bin?« Sie hatte eine dunkelblaue Jeans und einen grauen Pullover an.
Paul betrachtete sie mit kritischem Blick. »Zweifellos. Jede Veränderung wäre ein Verbrechen.« Er lächelte. »Komm, wir müssen uns beeilen, damit wir wenigstens noch einen Stehplatz kriegen.«
Seite an Seite liefen sie die StrandstraÃe entlang. Kassandra hätte erwartet, dass noch mehr Leute dasselbe Ziel hatten wie sie, aber anscheinend waren alle anderen weitaus früher aufgebrochen. Es begegneten ihnen kaum Menschen, weder hier noch auf der Thälmann-StraÃe, die direkt auf die angestrahlte Kirche zuführte. Dafür war jeder der spärlichen Parkplätze mit Autos besetzt, die nicht nur einheimische Kennzeichen trugen. Es war klug gewesen, zu Fuà zu gehen, aber mittlerweile bezweifelte Kassandra, dass sie überhaupt noch eingelassen wurden.
»Warum sollte Clemens Meisner einen Mord begehen für etwas, das fünfundzwanzig Jahre zurückliegt und ihm anscheinend nicht mal persönlich geschadet hat?«, fragte sie noch einmal.
»Es muss diesen Zwischenfall ja gar nicht direkt betreffen, schlieÃlich gibt es noch eine Menge Seiten in Saschas Buch, die ich bisher nicht entziffern konnte. Ich hab so das Gefühl, dass ich in der jüngeren Vergangenheit fündig werden könnte. Auch wenn ich es ungern sähe.«
»Das klingt, als würdest du was Bestimmtes erwarten.«
»Sascha brauchte Geld«, sagte Paul. »Viel Geld. Kann sein, er hat Clemens
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