Fischland-Rache
gründlicher unter die Lupe zu nehmen. Ich weià zwar nicht, wer einen Grund hatte, ihn zu ermorden, aber es gibt in diesem Büchlein viele, die zumindest einen guten Grund hatten, ihn nicht zu mögen.«
»Was genau hat er eigentlich getan? Du hast bisher nie darüber gesprochen.«
Paul suchte nach den richtigen Worten. »Sascha hatte ein einmaliges Talent dafür, den Finger auf die Schwachstellen anderer zu legen und das gnadenlos zu seinem Vorteil zu nutzen. Er konnte dabei überaus charmant sein, aber wenn diese Tour erfolglos blieb, wurde er hart und rücksichtslos. Es war ihm egal, wie er seine Ziele durchsetzte, Hauptsache, er setzte sie durch. Manchmal brauchte er nicht mal ein Ziel, manchmal war er einfach nur boshaft.« Paul stand auf, bückte sich nach dem Buch, legte es sehr sorgfältig zurück auf den Schreibtisch und fragte fast beiläufig: »Woher wusstest du, dass Sascha im âºDünentraumâ¹ abgestiegen war?«
Kassandra hatte Paul nicht erzählt, dass sie seinem Bruder vor dem Hotel begegnet war, weil sie Saschas Andeutungen nicht erwähnen wollte. Deshalb sagte sie auch jetzt nur, ihn dort im Vorbeigehen gesehen zu haben.
Paul nickte, lieà aber nicht so schnell locker. »Hat er was gesagt?«
Kurz entschlossen interpretierte sie Saschas Worte ein wenig um. »Er hat mich gewarnt, mich einzumischen.«
»Tja, woher sollte er wissen, dass du auf solche Warnungen nicht hörst?«, sagte Paul maliziös. Sein Blick fiel auf das Telefon. »Was hatte Violetta zu berichten?«
»Einiges. Sie selbst konnte sich nur daran erinnern, dass das mit Irene heikel war. Deswegen hat sie statt ihrer Tante auch lieber ihre Mutter gefragt, und die vermutet, es hat was mit dem Selbstmordversuch von Irenes damaligem Verlobten zu tun.«
Kurz stöhnte Paul auf. »Natürlich, da hätte ich selbst drauf kommen können. Steffen und Irene wollten heiraten, dann hat Irene einen Rückzieher gemacht, keiner wusste, warum. Das muss 1986 gewesen sein.« Er setzte seine Brille wieder auf, griff nach Saschas Buch, blätterte und begann schlieÃlich an der entsprechenden Stelle, den Code seines Bruders in Worte zu übertragen. Minutenlang hörte Kassandra nur das Kratzen seines Bleistifts auf einem Blatt Papier. Irgendwann gab er ein ersticktes Geräusch von sich, äuÃerte sich aber nicht weiter, bis er endlich den Stift hinlegte und hochsah.
»Was?«, fragte Kassandra beunruhigt.
Paul brauchte ein wenig, bis er seine Sprache wiederfand und sichtlich um einen neutralen Tonfall bemüht sagte: »Sascha hat alles nur in Stichwörtern notiert, aber es sieht so aus, als hätte er Steffen beim Fremdgehen erwischt. Mit ⦠einem Mann.«
Kassandra war das Zögern aufgefallen, anscheinend kannte Paul diesen anderen Mann. Um wen es sich auch handelte, vermutlich hatte Sascha Irene davon erzählt, und es war verständlich, dass die sich die Sache mit der Hochzeit nach dieser Eröffnung noch mal gründlich überlegt hatte. »Vielleicht wollte Sascha Irene bloà warnen?«
»Vergiss es. Sascha konnte Irene nicht ausstehen, er hat ihr bestimmt keinen Gefallen tun wollen. Eher wollte er Steffen reinreiten, der hatte ihn nämlich zugunsten von anderen Freunden aufs Abstellgleis gestellt, und Sascha konnte Nichtbeachtung noch nie verknusen â dabei spielte offenbar keine Rolle, dass er längst in Boizenburg bei der Elbewerft arbeitete, sein eigenes Leben lebte und sowieso nur noch selten hier war. Ich versuche, ihm zuzugestehen, dass er nicht mit dieser drastischen Reaktion gerechnet hat. Obwohl das passt, Steffen ist nämlich keiner, der öffentlich aus der Reihe tanzt, viel eher jemand, der um keinen Preis auffallen will. Ganz von der Bildfläche zu verschwinden ist für jemanden wie ihn also möglicherweise logisch. Und natürlich dachte er, das Aufsehen und das Gerede würde er nicht mehr mitkriegen. Seit der Zeit lebt er völlig zurückgezogen.«
Kassandra nickte. »Also kann man davon ausgehen, dass er nach all den Jahren als Mörder eher weniger in Frage kommt â noch mehr Aufsehen ginge kaum. Was ist aus dem anderen Mann geworden?«
»Der ist weggezogen. Keiner hat einen Zusammenhang zu Steffens Selbstmordversuch gesehen.« Paul öffnete eine Schublade, zog den Veranstaltungskalender von Wustrow hervor und hielt ihn Kassandra auffordernd
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