Fischland-Rache
nachgedacht und nun eine Erklärung gefunden. Vielleicht hatte er sich gefragt, seit wann Heinz die Wahrheit kannte. Er selbst schwieg sich darüber aus, wie, von wem und wann er die Geschichte erfahren hatte.
17
Kassandra schlief schlecht in dieser Nacht. Als sie endlich wegdämmerte, träumte sie von Heinz und Sascha, und in den zwei Stunden, die sie danach wach lag, malte sie sich aus, wie Heinz Sascha die Pistole auf die Brust gesetzt und abgedrückt hatte. Dabei wusste sie nicht mal, an welcher Stelle die Kugel in Saschas Körper eingedrungen war. Ohnmacht und Hilflosigkeit überschwemmten sie, sie wünschte sich ihre Pension voller Gäste, damit sie wenigstens Arbeit hatte und sich damit ablenken konnte. Leider war nicht Sommer, sie würde sich mit anderen Dingen beschäftigen müssen.
Paul saà bereits am Schreibtisch, als sie herunterkam, allerdings arbeitete er nicht an seinem Manuskript, sondern hielt Saschas Notizbuch in den Händen. »Wir haben immer noch dieses Buch mit all seinen Namen und Möglichkeiten«, sagte er. »Die auszuschöpfen gefällt mir heute ebenso wenig wie zuvor, aber wenn es sein muss, werden wirâs tun.«
»Du hast selbst gesagt, dass nichts drinsteht, was an Dramatik Clemensâ Geschichte gleicht, jedenfalls nichts, was einen Bezug zum Fischland hätte«, erinnerte ihn Kassandra.
»Ich hab auch gesagt, dass das alles eine Frage der Perspektive sein kann.« Er sah ihr anscheinend ihre Zweifel und vor allem ihre Sorge an. »Solange Heinz kein Geständnis ablegt, ziehe ich vor zu glauben, dass es jemand anders war, und ich schätze, er hat gesagt, wie es ist: Er weiÃ, was er tut und warum. Nicht dass andere das verstehen müssten, da ist er genauso ein Sturkopf, wie gewisse Leute das von mir annehmen.«
»Berechtigterweise annehmen«, korrigierte ihn Kassandra, halb ergeben, halb amüsiert.
Er lächelte ein bisschen. »Meinetwegen berechtigterweise.«
»Wenn ich dir mit dem Notizbuch nicht helfen kann, gehe ich raus«, sagte Kassandra. »Ich hab das Gefühl, mir fällt die Decke auf den Kopf.«
»Mach das«, stimmte Paul zu, schon wieder vertieft in das Buch.
Das gute Wetter hatte sich auch in diesen Tag hinübergerettet, und so setzte sich Kassandra diesmal allein auf das dunkelblaue Boot am Strand. Sie sah zum Hohen Ufer, wo in der Ferne ein paar Leute spazieren gingen und sich hin und wieder bückten, um Steine aufzuheben. In ihrer Manteltasche berührte sie den Hühnergott, um ihn kurz darauf rauszuholen und gegen das Licht zu halten, sodass sie durch das Loch die Möwe beobachten konnte, die gerade majestätisch herangeflogen kam und auf der Buhnenreihe direkt vor ihr landete. »Wenn der noch Glück bringen soll, könnte er langsam mal damit anfangen«, sagte sie leise zu sich selbst.
Sie hatte das Gefühl, neben ihr säÃe Paul und mahnte sie zur Geduld. Leider war das noch nie ihre Stärke gewesen. Sie umschloss den Stein fest mit den Fingern, steckte ihn zurück in den Mantel und seufzte. Hier zu sitzen brachte sie nicht weiter, die Gedanken schwirrten genauso unaufhörlich durch ihren Kopf wie überall sonst. Sie stand auf und lief ein Stück den Strand entlang in Richtung Seebrücke. Eine Familie mit einem Kleinkind fütterte Möwen, das Kind schrie begeistert so laut wie die Vögel, die sich um die Brotstücke stritten. Ãber der See zogen Wolken herauf, es war die längste Zeit schön gewesen, weit hinten am Horizont sah es schon nach Regen aus.
Auf der Brücke blieb Kassandra stehen und schaute suchend nach vorn, doch sie erkannte niemanden. Selbst wenn Bruno dort gewesen wäre â hätte sie über den Mord reden wollen, hätte sie auch zu Hause bleiben können. Sie wandte sich um und ging die StrandstraÃe hinauf, ohne einen Blick auf die Kapitänshäuser und Villen zu werfen, bis sie an der Nummer 10 vorbeikam, ein in mittlerweile verblasstem Rot gestrichenes Haus mit einem Rundbogen auf der linken Seite. Im Gegensatz zu den vielen liebevoll hergerichteten Gebäuden machte dieses eher einen vernachlässigten Eindruck. Abrupt hielt sie inne. Sie wusste aus Pauls Erzählungen, dass früher noch das kleine Holzhäuschen der Kurverwaltung davorgestanden hatte und dass die Backsteine des Haupthauses zu der Zeit nicht mit Farbe übertüncht gewesen waren. Der Rat der Gemeinde
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