Fischland-Rache
dich im Sommer auf dem Kieker hatte, würde ich auf eine nähere Bekanntschaft mit dem lieber verzichten, der muss einen ja nur angucken, da fühlt man sich schon schuldig.«
Kassandra lächelte in sich hinein. Sie hätte es damals selbst nicht für möglich gehalten, dass sie Dietrich je mögen würde.
Violetta wohnte im Peter-VoÃ-Weg, sodass sie sich an der Thälmann-StraÃe verabschiedete und nach Hause hastete, um möglichst schnell unter die heiÃe Dusche zu kommen. Auch Kassandra legte einen Schritt zu, weil sie nicht minder durchnässt war. Sie rechnete damit, Paul noch immer mit dem Notizbuch beschäftigt vorzufinden, stattdessen war er dabei, ein paar Sachen in eine Reisetasche zu werfen.
»Ich muss nach Schwerin, meine Mutter wurde ins Krankenhaus eingeliefert«, erklärte er.
Kassandra erschrak. »Was ist passiert?«
»Weià ich selbst nicht genau. Kreislauf, wenn wir Glück haben. Infarkt, wenn nicht. Ihre Nachbarin hat mich benachrichtigt, die hat vor einer Stunde den Notarzt gerufen, der nicht lange gefackelt hat.« Paul schloss kurz die Augen. »Ich hätte sie nicht allein lassen dürfen.«
»Das konntest du nicht ahnen«, versuchte Kassandra, ihm die Schuldgefühle auszureden. Sein Vater war an einem Herzinfarkt gestorben, sie konnte sich vorstellen, was in ihm vorging.
Er lächelte flüchtig. »Danke. Aber â¦Â«
»Kein Aber. Das hätte jederzeit passieren können, heute, morgen oder in drei Wochen. Es ist nicht deine Schuld.«
Paul schloss die Reisetasche, schlüpfte in seinen Mantel und drückte Kassandra kurz an sich. Dann war er verschwunden.
Sie zog sich um, räumte auf, was Paul in seiner Hektik hatte herumliegen lassen, und warf anschlieÃend einen Blick auf seinen Schreibtisch, auf dem Saschas Notizbuch noch aufgeschlagen lag. Er hatte begonnen, die versprochene Abschrift für Dietrich anzufertigen â und sogar vergessen, sein Laptop herunterzufahren. Sie las, was er schon übertragen hatte, konnte aber seiner Meinung von vor einigen Tagen nur zustimmen: Es schien nichts darunter zu sein, was einen Mord rechtfertigte. AnschlieÃend bemühte sie sich, alles wieder zu vergessen.
Einen Augenblick überlegte sie, ob sie bleiben oder in ihr eigenes Haus zurückkehren sollte, und entschied sich für Letzteres. Sie wollte immer noch das Bücherpaket für Heinz zusammenstellen, das konnte sie in Ermangelung einer sinnvolleren Tätigkeit gleich tun. Mittlerweile nieselte es nur noch, und während sie einigermaÃen gemächlich durch die StraÃen ging, spürte sie, dass da ein Gedanke in ihr rumorte, ohne dass sie ihn benennen konnte. Hatte irgendwer irgendwas Wichtiges gesagt oder getan, was ihr bewusst entgangen war und auf das sie ihr Unterbewusstsein jetzt aufmerksam machen wollte? Je länger sie grübelte, desto mehr schien es sich ihr zu entziehen, sodass sie aufgab und stattdessen bei Heinz ein paar Bücher in einen Karton packte. Danach ging sie in die Küche und öffnete Kühl- und Vorratsschrank, um Verderbliches auszusortieren. Sie mochte zwar nicht daran denken, aber es war immerhin möglich, dass Heinz noch eine Zeit lang wegblieb. Bald stapelten sich auf dem Tisch die Lebensmittel, und Kassandra fragte sich gerade, was davon sie noch verwenden konnte â da wusste sie plötzlich, was sie vorhin irritiert hatte.
Inga. Violetta.
Sie hatte Violetta mit Inga verwechselt.
Kassandra lieà sich auf einen von Heinzâ alten Küchenstühlen plumpsen, die ebenso sorgfältig aufgearbeitet waren wie der polierte Tisch, und dachte nach. Vielleicht war das zu weit hergeholt, vermutlich ging ihre Phantasie mit ihr durch, und der Wunsch war Vater ihres Gedankens, aber nachgehen musste sie ihm. Sie nahm den Bücherkarton und ging durch den Nieselregen rüber nach Hause, wo sie sich mit ihrem Telefon aufs Sofa setzte. Sie schaute nach drauÃen auf die Terrasse und fragte sich, ob sie das Richtige tat. Ohne eine eindeutige Antwort gefunden zu haben, wählte sie Dietrichs Nummer.
»Ja?«, meldete er sich kurz angebunden. Wahrscheinlich störte sie ihn in einer wichtigen Besprechung, bei der Sichtung eines Tatortes oder sonst wo. Sie hätte bis abends mit dem Anruf warten sollen, andererseits wusste man bei einem Polizisten ja nie, wann er im Dienst war und wann nicht.
»Wie deutlich war die Aufzeichnung der
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