Fischland-Rache
hatte darin seinen Sitz gehabt â und Heinz seinen Arbeitsplatz: das Büro des Abschnittsbevollmächtigten. Heutzutage hielt hier der Bürgermeister seine Sprechstunde ab. Plötzlich wünschte sie sich, in der Zeit zurückreisen zu können. Sie hätte viel darum gegeben zu erleben, wie es früher hier gewesen war, denn trotz allem, was Paul ihr erzählte, waren das eben doch nur seine Erinnerungen, die sie niemals wirklich nachempfinden konnte. Ein Teil seines Lebens â und ein Teil vom Fischland â, der ihr immer auf gewisse Weise fremd bleiben würde. Es war ihr unmöglich, eine junge Ausgabe von Heinz zu sehen oder von Paul und den Menschen, die nicht mehr lebten: Pauls Vater, Micha Lange, Karin.
Kassandra wandte sich ab und lief weiter. Sie lebte heute, es hatte keinen Sinn, etwas Vergangenem nachzutrauern, schon gar nicht etwas, was sie nie gekannt hatte. Trotzdem lieà sie dieses Gefühl nicht los, bis sie durch das Friedhofstor schritt. Mittlerweile zogen die Wolken dichter über den Himmel, ab und zu verschwand die Sonne, dann wurde es sofort kühler. Kassandra zog den Mantel enger um ihren Körper. Ein paar Meter vor ihr stand die Kapelle, deren Tor jetzt geschlossen war, einsam und verlassen. Kein Vergleich zu vorgestern, wo es dort von Menschen nur so gewimmelt hatte. Kassandra bog ein paar Meter vor der Kapelle nach rechts in einen Weg ein, passierte den hohen schwarzen Gedenkstein für die Gefallenen des Ersten Weltkriegs, deren Namen in der gerade wieder aufblitzenden Sonne golden glänzten, und blieb vor Karins Grab stehen. Der graue Findling trug die Aufschrift: Danke, dass Du da warst. Karin Jung, 1957 â 2007 . Auf dem Grab blühte noch ein klein wenig helllila Septemberkraut, zwischen die Blüten und den Findling hatte Heinz einen Stein gelegt, der mit ein bisschen Phantasie wie ein Fisch aussah. Das konnte noch nicht allzu lange her sein, der Stein strahlte in fast reinem WeiÃ, als sei er gerade erst mit einem Klackern aus der See auf die anderen am Strand liegenden Steine gerollt.
»Verdammt, Heinz«, flüsterte Kassandra. »Wenn du es nicht warst, warum lässt du dir nicht helfen?«
Sie merkte nicht, wie die Zeit verging, erst als es ihr spürbar zu kalt wurde, weil die Sonne endgültig hinter den Wolken verschwand, verlieà sie den Friedhof durch das rückwärtige Tor. Sie kam dabei an der letzten Reihe mit Saschas Grab vorbei, dem sie keinen Blick gönnte. Vermutlich war das jetzt ein trostloser aufgeworfener Erdhügel, auf dem Margarethe Freeses Kranz aus weiÃen Rosen allmählich verwelkte.
Prüfend warf Kassandra einen Blick in den Himmel. Es würde nicht mehr lange dauern mit dem Regen, dennoch wollte sie nicht zurück. Statt nach Hause schlug sie den Weg am Wäldchen entlang ein, der zum Bodden führte. Die andere Seite des Weges säumte ein weites Feld, hinter dem die Gehöfte von Barnstorf zu erkennen waren. Im immer dunkler werdenden Novembervormittag wirkte das alles trotz der Weite düster, daher war Kassandra nicht überrascht, dass sie am anderen Ende des Weges eine Gestalt sah, die mit langen, resoluten Schritten näher kam und offenbar dem Regen davonlaufen wollte. Die Frau war hochgewachsen und steckte in einer Jacke, deren Kapuze sie gegen den aufgekommenen Wind tief ins Gesicht gezogen hatte. Dennoch war sich Kassandra aufgrund der GröÃe und des Ganges relativ sicher, dass es Inga war. Die musste es nicht nur wegen des Wetters, sondern auch wegen der Uhrzeit eilig haben. In weniger als einer Stunde öffnete das »FischLänder«.
Langsam ging Kassandra ihr entgegen. Jeder Verdacht, den sie gegen Inga gehabt hatten, hatte sich in Wohlgefallen aufgelöst. Glücklicherweise ahnte Inga nichts davon, dass nicht nur Dietrich sie auf dem Plan gehabt hatte. Falls sie das je erfuhr, würde sie das in Pauls Fall wahrscheinlich besonders treffen, angesichts der Dinge, die er und ihr Vater gemeinsam hatten. Kassandra wusste nicht recht, ob es ihr gelingen würde, Inga unbefangen gegenüberzutreten, ihre Schritte wurden zögernder. Zu allem Ãberfluss fing es nun tatsächlich an zu regnen. Sie blieb stehen und drehte sich instinktiv um, als eine Windböe ihr den Regen ins Gesicht fegte.
»Was für ein Mistwetter, was, das ist ja nicht zu glauben, dabei warâs vorhin noch so schön, sonst hätte ich doch nie so einen
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