Fitz der Weitseher 01 - Der Weitseher
der sich durch mein plötzliches Auftauchen erschrak, sondern mein leiblicher Großvater,
der alte König selbst. An seiner Seite, nur einen halben Schritt zurück, ging Edel. Seine verquollenen Augen und das zerknitterte Wams verrieten seine ausschweifende Teilnahme an dem nächtlichen Gelage. Des Königs Narr, erst kürzlich an den Hof gekommen, trippelte hinter ihnen drein; er hatte kugelrunde Augen in einem porzellanweißen Gesicht. Er war ein derart kurioses Geschöpf mit seiner kreidigen Haut und dem schwarz-weißen Flickengewand, dass ich ihn kaum genauer zu betrachten wagte. König Listenreich hingegen hatte klare Augen, sein Haar und sein Bart waren frisch gekämmt, seine Kleidung untadelig. Nach seiner ersten Überraschung bemerkte er: »Du siehst, Edel, es ist, wie ich dir gesagt habe. Sobald sich eine Gelegenheit bietet, wird sie auch ergriffen; oft von einem jungen Menschen oder von jemandem, der von der Energie und den Begierden der Jugend erfüllt ist. Das Königtum darf sich nicht erlauben, solche Gelegenheiten zu ignorieren oder ihre Bestimmung anderen zu überlassen.« So wie der König weiterschlenderte, so steigerte er sich auch weiter in dieses Thema hinein, während Edel mir aus blutunterlaufenen Augen einen unheilvollen Blick zuwarf. Ein ungnädiger Wink seiner Hand bedeutete mir, mich schleunigst fortzumachen. Ich nickte, um zu zeigen, dass ich verstanden hatte, doch vorher huschte ich noch einmal zum Tisch. Gerade hatte ich mir zwei Äpfel ins Wams gesteckt und nach einer so gut wie unversehrten Stachelbeertorte gegriffen, als der König sich plötzlich herumdrehte und mit der ausgestreckten Hand auf mich deutete. Sein Narr ahmte die Geste nach. Ich erstarrte.
»Schau ihn dir an«, befahl der alte König.
Edel musterte mich mit einem stechenden Blick, doch ich wagte nicht, mich zu rühren.
»Was kannst du mir über ihn sagen?«
Edel wirkte verblüfft. »Über ihn? Er ist der Bastard. Chivalrics illegitimer Sohn. Lungert wie immer herum, wo er nichts zu suchen hat.«
»Du Narr.« König Listenreich lächelte, aber seine Augen blieben hart. Der Hofnarr fühlte sich dabei angesprochen und zauberte ebenfalls ein Lächeln auf sein Gesicht, während der König mit seinem Gedanken fortfuhr. »Sind deine Ohren mit Wachs verstopft? Hörst du nichts von dem, was ich sage? Ich fragte dich nicht, was du bisher aus ihm gemacht hast, sondern was du in Zukunft aus ihm zu machen gedenkst. Dort steht er, jung und stark und voller Möglichkeiten. Er trägt das gleiche königliche Blut in sich wie du, auch wenn er in den falschen Bettlaken geboren wurde. Also, was würdest du aus ihm machen? Ein einfaches Werkzeug? Eine Waffe? Einen Gefährten? Einen Feind? Oder wirst du das ungeformte Eisen liegen lassen, damit jemand anderes es aufhebt und gegen dich verwendet?«
Edel sah mich an, dann an mir vorbei, und als er sonst niemanden im Saal entdecken konnte, kehrte sein ratloser Blick zu mir zurück. Einer der Welpen stupste mich am Bein und winselte - als Mahnung, ihn beim Teilen nicht zu vergessen. Ich gab ihm zu verstehen, er solle lieber still sein.
»Dieser Bastard? Er ist doch bloß ein Kind.«
Der alte König seufzte. »Heute. An diesem Morgen und jetzt ist er ein Kind. Wenn du dich das nächste Mal umdrehst, wird er ein Jüngling sein oder, schlimmer noch, ein Mann, und dann ist die Chance vertan. Aber nimm ihn jetzt, Edel, und forme ihn, und in zehn Jahren ist er dir treu ergeben. Statt eines unzufriedenen Bastards, den man überreden kann, Anspruch auf den Thron zu erheben, wird er ein treuer Gefolgsmann sein, sowohl
im Geiste als auch im Blute der Familie fest verbunden. Ein Bastard, mein lieber Edel, ist etwas Einzigartiges. Steck ihm einen Siegelring an den Finger und sende ihn aus, und sogleich hast du einen Diplomaten geschaffen, den kein benachbarter Herrscher abzuweisen wagt. Ihn kann man hinschicken, wo es für einen Prinzen von reinem Geblüt zu gefährlich wäre. Bedenke die Gelegenheiten, bei denen jemand von Nutzen wäre, der dem Herrscherhaus zwar angehört, aber nur an der Seite des Throns steht. Ob es um den Austausch von Geiseln geht. Um politische Heiraten. Um das Wirken im Verborgenen. Oder um die Diplomatie der gezückten Messer.«
Bei den letzten Worten des Königs wurden Edels Augen groß und rund. Für einen atemlosen Moment standen wir alle regungslos da und betrachteten uns gegenseitig. Als Edel sprach, hörte es sich an, als hätte er trockenes Brot verschluckt. »Herr
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