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Fitz der Weitseher 01 - Der Weitseher

Titel: Fitz der Weitseher 01 - Der Weitseher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robin Hobb
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alkoholischer als auch pflanzlicher Art. Dennoch stimmt es, dass sie, bevor sie schließlich ihrer Sucht erlag, nicht unerheblich dazu beitrug, die Kluft zwischen den Herzogtümern im Inland und an der Küste zu vergrößern.
     
    Nach und nach begann ich mich auf meine nächtlichen Zusammenkünfte mit Chade zu freuen. Sie erfolgten nicht in regelmäßigen Abständen oder nach einem festen Plan. Es kam schon einmal vor, dass ein, zwei Wochen zwischen den Treffen lagen. Dann wieder bestellte er mich eine Woche lang jeden Abend zu sich, so dass ich Mühe hatte, am Tag meinen Pflichten
nachzukommen. Manchmal rief er mich schon, kaum dass in der Burg alles schlief, dann wieder erst in der Stunde kurz vor Morgengrauen. Es war ein anstrengendes Pensum für einen heranwachsenden Jungen, aber nie dachte ich daran, mich bei Chade zu beschweren oder seinem Ruf nicht zu folgen. Vermutlich kam auch ihm selbst kaum je der Gedanke, die nächtlichen Lektionen könnten für mich ein Problem sein. Da er selbst ein Nachtmensch war, mussten für ihn wohl meine nächtlichen Unterrichtsstunden als völlig normal erscheinen. Schließlich waren die Dinge, die ich lernte, den dunkleren Stunden der Welt merkwürdig angemessen.
    Sein Lehrstoff war von ungeheurer Vielfalt. Hatte ich an einem Abend vielleicht noch die Illustrationen in dem großen Pflanzenbuch aus seiner Bibliothek studiert, so bekam ich im Zusammenhang gleich am nächsten Tag die Aufgabe, sechs beliebige der abgebildeten Gewächse zu sammeln. Er hielt es nicht für nötig, mir wenigstens zu verraten, wo ich nach den Kräutern suchen sollte, ob im Küchengarten oder irgendwo im tiefsten Wald, aber ich fand sie trotzdem und lernte dabei, meine Beobachtungsgabe zu schärfen.
    Er dachte sich auch Spiele aus. Zum Beispiel sollte ich an einem Morgen zu Sarah, der Köchin, gehen und sie fragen, ob der Speck von diesem Jahr magerer wäre als der vom letzten. Dann musste ich am Abend desselben Tages Chade das gesamte Gespräch wiedergeben, so wortgetreu wie möglich, und ihm ein Dutzend Fragen beantworten, so über ihre Körperhaltung, ob sie Linkshänderin sei, ob es den Anschein hatte, dass sie schlecht hörte, und was sie gerade kochte. Meine Schüchternheit und Menschenscheu galten nicht als ausreichende Entschuldigung, um etwa einen derartigen Auftrag
nicht auszuführen. Deshalb ergab es sich zwangsläufig, dass ich viele Leute vom Gesinde, den Knechten und Mägden in der Burg kennenlernte. Obwohl meine Fragen nicht von mir, sondern von Chade stammten, freute sich jeder über mein Interesse und war bereit, mich an seinen Kenntnissen teilhaben zu lassen. Ohne eigenes Verdienst erwarb ich mir so den Ruf eines »klugen Burschen« und eines »braven Jungen«. Erst Jahre später begriff ich, dass diese Aufgaben nicht nur eine gute Gedächtnisübung waren, sondern auch eine Lektion im Umgang mit den einfachen Leuten und wie man sie sich wohlgesinnt macht. Mehr als einmal seither haben mir ein Lächeln, ein anerkennendes Wort, wie gut mein Pferd versorgt worden war, und eine beiläufige Frage an den Stallburschen Informationen eingebracht, die alle Dukaten des Königreichs nicht aus ihm herausgelockt hätten.
    Andere Spiele dienten dazu, außer meiner Beobachtungsgabe auch meinen Wagemut zu schulen. Eines Tages zeigte Chade mir ein Garnknäuel und erklärte mir, ohne Mistress Hurtig zu fragen, müsse ich herausfinden, wo sie genau das gleiche Garn aufbewahrte und welche Kräuter man verwendet hatte, um es zu färben. Drei Tage später ging es darum, ihre beste Schere verschwinden zu lassen, für drei Stunden hinter einem bestimmten Weinregal im Keller zu verstecken und dann wieder an den alten Platz zurückzulegen - all das natürlich, ohne von ihr oder jemand anderem entdeckt zu werden. Solche Übungen entsprachen der natürlichen Vorliebe eines Jungen für Schabernack, und nur selten misslang mir eine Aufgabe. Wurde ich jedoch ertappt, musste ich allein die Folgen tragen. Chade hatte mir gesagt, er werde mich nicht in Schutz nehmen, und gab mir nur die Empfehlung mit auf den Weg, immer eine glaubhafte Erklärung parat
zu haben, weshalb ich war, wo ich nicht sein sollte, oder besaß, was nicht in meinen Besitz gehörte.
    Ich lernte, meisterhaft zu lügen, und ich bin überzeugt, genau so war es geplant.
    Das waren die Lektionen in meinem ersten Lehrjahr als Schüler eines Assassinen. Und dazu kam noch mehr: Alle möglichen Taschenspielertricks und die Kunst, sich lautlos zu bewegen.

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