Fitz der Weitseher 01 - Der Weitseher
Wohin es einen Mann im Kampf zu treffen gilt, um ihn bewusstlos zu schlagen. Wohin es ihn zu treffen gilt, um ihn lautlos sterben zu lassen. Wohin den Dolch zu stoßen, um möglichst wenig Blut zu vergießen. Ich lernte auch das schnell und gut, angespornt von Chades Lob für meine rasche Auffassungsgabe.
Bald fing er an, mir kleine Arbeiten zu übertragen. Vorher wusste ich nie, ob es Prüfungen meiner Fähigkeiten oder wirkliche Pflichten waren, die er pünktlich erledigt sehen wollte. Für mich machte es keinen Unterschied. Ich führte sie alle mit dem gleichen Feuereifer und in blinder Verehrung meines Lehrmeisters aus. Im Frühling präparierte ich die Trinkbecher einer Delegation von Kaufleuten, so dass der Wein ihnen schneller zu Kopfe stieg. Einige Zeit später, noch im selben Monat, versteckte ich die Marionette eines gastierenden Puppenspielers, der infolgedessen gezwungen war, »Den Vorfall der vertauschten Kelche« zu bringen, einen heiteren kleinen Schwank, anstelle des langatmigen Historiendramas, das eigentlich für den Abend auf dem Programm stand. Am Mittsommerfest fügte ich dem Nachmittagstee einer Dienstmagd ein bestimmtes Kräuterlein bei, so dass sie und ihre drei Freundinnen sich in Bauchschmerzen wanden und abends nicht bei Tisch aufwarten konnten. Im Herbst band ich eine Schnur um die Fessel des Pferdes, das einem
zu Besuch weilenden Edelmann gehörte, damit das Tier lahmte und der Gast wohl oder übel zwei Tage länger als geplant in Bocksburg bleiben musste. Falls diese Streiche jeweils einem bestimmten Zweck dienten, erfuhr ich davon nichts. In meinem Alter bereitete mir das Wie ohnehin mehr Kopfzerbrechen als das Warum. Auch das, glaube ich heute, gehörte zu den Dingen, die ich lernen sollte: gehorchen, ohne Fragen zu stellen.
Ein Auftrag machte mir besonders großen Spaß. Damals schon wusste ich, dass hinter dieser Sache mehr steckte als nur eine Laune Chades. Ich erhielt meine Instruktionen kurz vor dem Morgengrauen. »Lord Jessup und seine Gemahlin sind seit zwei Wochen hier zu Gast. Du kennst sie vom Sehen; er hat einen sehr langen Schnurrbart, und sie zupft ständig an ihrem Haar, selbst bei Tisch. Du weißt, wen ich meine?«
Ich runzelte die Stirn. Eine Anzahl von Edelleuten hatte sich in Bocksburg eingefunden, um zu beraten, wie man sich der Raubüberfälle der Outislander erwehren sollte. Soweit ich es verstand, verlangten die Küstenprovinzen mehr Kriegsschiffe, aber die Herzogtümer im Inland weigerten sich rundweg, mit ihren Steuern etwas zu finanzieren, das sie nach ihrer Ansicht nicht berührte. Lord Jessup und Lady Dahlia waren Inländer. Jessup mit dem Schnurrbart schien ein heftiges Temperament zu besitzen und sich ständig in einem Zustand leidenschaftlicher Erregung zu befinden. Lady Dahlia hingegen zeigte nicht das geringste Interesse an den Beratungen und verbrachte die meiste Zeit damit, in der Burg herumzuschlendern.
»Sie trägt stets Blumen im Haar? Die sie dauernd verliert?« »Das ist sie.« Chade nickte lebhaft. »Gut. Du kennst sie. Nun, hier deine Aufgabe, und ich habe keine Zeit, mit dir die Durchführung zu planen. Irgendwann heute im Laufe des Tages wird
sie eine Kammerzofe in Prinz Edels Gemächer schicken. Die Zofe wird etwas zu überbringen haben - einen Brief, eine Blume, einen Gegenstand. Du wirst den Gegenstand aus dem Gemach entfernen, bevor Edel ihn findet. Hast du verstanden?«
Ich nickte und machte den Mund auf, um etwas zu sagen, doch Chade erhob sich plötzlich und scheuchte mich fast aus dem Zimmer. »Keine Zeit, es dämmert schon!«, mahnte er.
Aus meinem Versteck in Edels Gemächern beobachtete ich, wie die Zofe hereinkam. Ihre Art verriet mir, dass dies nicht ihre erste geheime Mission war. Sie legte eine kleine Schriftrolle und eine Rosenknospe auf Edels Kopfkissen und huschte wieder hinaus. Kurze Zeit später war beides in meinem Wams verstaut und dann unter meinem eigenen Kissen. Ich glaube, der schwierigste Teil der Aufgabe war, standhaft zu bleiben und die Schriftrolle nicht zu öffnen. Erst viel später in der Nacht übergab ich Chade meine zwei Beutestücke.
Während der nächsten Tage wartete ich auf den Eklat, der unweigerlich folgen musste, und hoffte, Edel in ernsthaften Unannehmlichkeiten zu erleben. Doch zu meiner Verwunderung geschah nichts. Edel benahm sich fast wie immer, nur dass er vielleicht noch sarkastischer war als sonst und noch unverfrorener mit jeder Dame anbandelte. Was allerdings Lady Dahlia anbetraf, so
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