Fitz der Weitseher 01 - Der Weitseher
Rußflockes Schulter, so leise, dass er es unmöglich verstehen konnte, doch einen Atemzug später hörte ich ihn brummen: »Ich komme zurecht, Fitz. Ich komme zurecht.«
Er hatte mit seiner Arbeit abgeschlossen und kam zu mir herüber in Rußflockes Stand. »Du bist heute so schwatzhaft wie eine alte Klatschbase, Fitz. Was ist in dich gefahren?«
Nun kam ich selbst ins Stutzen und geriet in Nachdenklichkeit. Chades Einfluss, daran lag es. Er war jemand, der wollte, dass ich verstand und mit darüber bestimmte, was ich lernte. Er hatte mir Mut gemacht, endlich die Fragen zu stellen, die ich seit Jahren mit mir herumschleppte. Doch weil ich das nicht offen sagen konnte, ohne mein gegebenes Wort zu brechen, zuckte ich die Schultern und antwortete wahrheitsgemäß: »Das sind nur Dinge, über die ich mir schon lange Gedanken gemacht habe.«
Burrich schien zufrieden zu sein. »Schön. Es ist ein Fortschritt, dass du fragst, obwohl ich dir nicht immer eine Antwort versprechen kann. Ich bin froh, dich reden zu hören wie einen Menschen, so habe ich weniger Sorge, dich an die Tiere zu verlieren.« Bei den letzten Worten warf er mir einen strengen Blick zu, bevor er sich umdrehte und humpelnd die Stallgasse hinunterging. Ich sah ihm nach und musste an jenen Abend denken, als ich in seine Obhut gekommen war und wie ein Blick von ihm genügt hatte, einen ganzen Raum voller Männer zur Räson zu bringen. Er war nicht mehr derselbe. Er war zwar immer noch unumschränkter Herrscher in den Stallungen, und niemand stellte seine Autorität dort infrage. Doch er war nicht länger der
erste Gefolgsmann des Thronfolgers. Abgesehen davon, dass er dessen Abkömmling unter seine Fittiche genommen hatte, war er sogar überhaupt nicht mehr Chivalrics Gefolgsmann. Kein Wunder, dass er mich nicht ohne stummen Vorwurf ansehen konnte. Er hatte den Bastard nicht gezeugt, der ihm so viel Unglück brachte. Zum ersten Mal, seit ich ihn kannte, empfand ich so etwas wie Mitleid mit ihm.
KAPITEL 5
BEZIEHUNGEN
I n einigen Königreichen und Ländern ist es Sitte, dass männliche Nachkommen gegenüber weiblichen in der Erbfolge Vorrang genießen. In den Sechs Provinzen hat es nie einen dementsprechenden Brauch gegeben. Titel werden ausschließlich nach der Reihenfolge der Geburt weitervererbt.
Von demjenigen, der einen Titel erbt, wird erwartet, dass er sich in Amt und Würde verantwortlich betrachtet. Wäre ein Herzog so unklug, zu viel Holz schlagen zu lassen, die Weinberge zu vernachlässigen oder gar Inzucht im Viehbestand auftreten zu lassen, dann könnten die Untertanen seines Herzogtums sich erheben und den König um Gerechtigkeit ersuchen. Solches ist vorgekommen, und jeder Edelmann weiß, dass es wieder geschehen kann. Das Wohlergehen des Volkes liegt ganz beim Volk, und es hat das Recht, Beschwerde zu führen, wenn der Herzog sein Amt schlecht versieht.
Auch in der Frage der Eheschließung ist der Würdenträger angehalten, dies alles in Betracht zu ziehen. Der oder die Auserwählte muss willens sein, den eigenen Titel an das nächstjüngere Geschwisterteil weiterzugeben. Man kann nur getreuer Verwalter eines einzigen Besitzes sein. Gelegentlich sind daraus Zwistigkeiten entstanden.
König Listenreich nahm Lady Desideria zur Gemahlin, die Herzogin von Farrow geworden wäre, hätte sie sich nicht dazu entschieden, seine Werbung anzunehmen. Es heißt, dass sie nach einiger Zeit ihren Entschluss bereute und sich einredete, als Herzogin hätte sie größere Macht besessen. Sie heiratete Listenreich wohl wissend, dass sie seine zweite Königin war und dass seine erste Gemahlin ihm bereits zwei Erben geboren hatte. Von Anfang an machte sie keinen Hehl aus ihrer Abneigung gegen die beiden älteren Prinzen und wurde nicht müde zu betonen, dass sie von sehr viel vornehmerer Abkunft sei als ihre Vorgängerin, womit ihr Sohn Edel über seinen beiden Halbbrüdern stünde. So versuchte sie unter anderem mit der Wahl des Namens für ihren Sohn, andere in diesem Sinne zu beeinflussen. Zu ihrem Verdruss betrachtete man diesen Schachzug weithin als geschmacklos. Bei Hofe nannte man sie sogar manchmal spottend die Inlandskönigin, denn im Rausch pflegte sie offen zu verkünden, sie besäße den nötigen politischen Einfluss, um Farrow und Tilth zu einem Königreich zu vereinen, das stark genug wäre, auf ihr Verlangen König Listenreichs Herrschaft abzuschütteln. Man schrieb diese Äußerungen ihrer Vorliebe für verschiedenste Rauschmittel zu, sowohl
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