Fitz der Weitseher 01 - Der Weitseher
Überreste des Ortes.
Das allein für sich genommen war eine bestürzende Erfahrung.
Doch ich konnte sie auch nicht spüren.
Ich hatte sie weder gesehen noch gehört, bis Chade mich auf sie aufmerksam machte. Ohne ihn wäre ich einfach an den Leuten vorbeigeritten. Und zudem traf mich die urplötzliche Erkenntnis, anders zu sein als alle anderen, die ich kannte, wie ein Schlag. Man stelle sich ein sehendes Kind vor, das in einem Dorf von Blinden heranwächst, wo niemand auch nur die Möglichkeit des Augenlichts ahnt. Das Kind hätte keine Worte für Farben, hell oder dunkel, und seine Umgebung keine Vorstellung von der Art, in der das Kind die Welt wahrnimmt. Genau in dieser Situation befanden wir uns, als wir still auf unseren Pferden saßen und die Leute beobachteten. Denn Chade fragte ratlos: »Was ist los mit ihnen? Was kann bloß mit ihnen geschehen sein?« Ich wusste es.
Die unsichtbaren Fäden, die uns Menschen verbinden, die sich zwischen Mutter und Kind spinnen, zwischen Mann und Frau und weiter, zu Verwandten und Nachbarn und zu allen Kreaturen, selbst zu den Fischen im Meer und den Vögeln am Himmel, waren durchtrennt worden, das feingeknüpfte Netz war zerstört.
Mein ganzes Leben lang hatte ich mich unbewusst auf diese Gefühlsströmungen verlassen, um zu spüren, ob andere lebende Wesen in der Nähe waren. Nicht nur Menschen, sondern auch Hunde, Pferde, sogar Hühner besaßen sie. Deshalb hob ich den Kopf und schaute zur Tür, bevor Burrich hereinkam, deshalb wusste ich, dass sich im Stall halb im Stroh begraben noch ein weiteres neugeborenes Hündchen befand. Deshalb wachte ich auf, sobald Chade die Geheimtür öffnete. Weil
ich Menschen spüren konnte. Dieser spezielle Sinn befand sich ständig in Alarmbereitschaft und veranlasste mich schnell, Augen, Ohren und Nase zu gebrauchen, um zu erfahren, was genau im Gange war.
Aber von diesen Menschen gingen keinerlei Impulse aus.
Wie Wasser, das nicht nass ist und kein Gewicht hat - so etwa empfand ich diese Leute. Beraubt jeglichen Menschseins, beraubt all dessen, was sie zu lebenden Wesen machte. Mir kam es vor, als sähe ich zu, wie Steine sich von der Erde erhoben und mich mit toten Stimmen anknurrten. Ein kleines Mädchen fand einen Topf Marmelade, steckte die Hand hinein und leckte sie ab. Ein älterer Mann wandte sich von den angekohlten Stoffballen ab, die er auseinandergezerrt hatte, und ging zu ihr hin. Er riss den Topf an sich und stieß die Kleine zur Seite, ohne auf ihr wütendes Geschrei zu achten.
Keiner von den anderen griff ein.
Chade machte Anstalten abzusteigen, doch ich packte seine Zügel, stieß Rußflocke die Stiefelhacken in die Flanken und feuerte sie mit lauten Rufen an. Die Angst in meiner Stimme erschreckte sie, und trotz ihrer Müdigkeit fiel sie in Galopp. Dem Braunen blieb nichts anderes übrig, als ihrem Beispiel zu folgen. Chade wurde durch den Ruck fast aus dem Sattel geschleudert, doch er klammerte sich fest, und wir flohen aus der Geisterstadt, so schnell die Pferde laufen konnten. Die seelenlosen Stimmen verfolgten uns, kälter als das Heulen der Wölfe, kälter als Sturmwind im Kamin, aber wir waren auf unseren Pferden und ich voller Angst. Erst als die Häuser ein gutes Stück hinter uns lagen, ließ ich Rußflocke in Schritt fallen und gab Chade die Zügel zurück. Die Straße machte einen Bogen, und neben einer kleinen Baumgruppe hielt ich schließlich an. Ich glaube,
bis dahin waren Chades verärgerte Aufforderungen, mein Verhalten zu erklären, überhaupt nicht bis in mein Bewusstsein gedrungen.
Er sollte auch keine brauchbare Erklärung bekommen. Ich beugte mich vor und schlang Rußflocke die Arme um den Hals. Wir zitterten beide, und ich konnte spüren, dass sie mein Unbehagen teilte. Kaum waren wir etwas zu Atem gekommen, dachte ich wieder an die unheimlichen Bewohner von Ingot und trieb Rußflocke mit dem Druck meiner Knie erneut an. Sie setzte sich schwerfällig in Bewegung. Chade lenkte seinen Braunen neben uns und verlangte aufgebracht nach einer Erklärung, was in mich gefahren sei. Mein Mund war trocken, meine Stimme schwankte. Ich sah ihn nicht an, als aus mir genauso viel Angst wie Worte hervorsprudelten und eine wirre Schilderung dessen abgaben, was ich gefühlt hatte.
Als die Worte ein Ende hatten, ritten wir schweigend die von Radfurchen durchzogene Straße entlang. Endlich fasste ich Mut und blickte zu Chade auf. Er betrachtete mich, als wäre mir plötzlich ein Geweih aus der Stirn
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