Fitz der Weitseher 01 - Der Weitseher
gesprossen. Ich spürte seine Skepsis. Und ich spürte, wie er sich von mir zurückzog, wenn auch unmerklich, eine unwillkürliche Abwehr gegen jemanden, an dem sich unvermutet eine neue, fremde Seite offenbart hatte. Es schmerzte umso mehr, weil er auf die Leute in Ingot nicht in derselben Weise reagiert hatte, waren sie doch hundertmal fremdartiger als ich.
»Sie waren wie Marionetten«, erklärte ich. »Wie Gliederpuppen, die zum Leben erwacht sind und ein bitterböses Schauspiel aufführen. Sie hätten nicht gezögert, uns wegen unserer Pferde oder unserer Mäntel oder für ein Stück Brot zu töten. Sie …« Ich suchte nach Worten. »Sie sind nicht einmal mehr Tiere. Von
ihnen geht kein Leben aus. Nicht das geringste. Sie sind wie Gegenstände, Bücher, Steine oder …«
»Junge«, sagte Chade in einem Tonfall zwischen Güte und Strenge, »du musst dich zusammenreißen. Wir haben einen langen, harten Weg hinter uns, und du bist müde. Zu wenig Schlaf, und der Verstand beginnt einem Dinge vorzugaukeln …«
»Nein.« Ich wollte ihn um jeden Preis überzeugen. »Du verstehst mich nicht. Das hat nichts mit Schlafmangel zu tun.«
»Wir kehren um.« Er schien mich gar nicht gehört zu haben. Sein schwarzer Umhang bauschte sich in der Morgenbrise auf, und die Alltäglichkeit dieses Anblicks trieb mir beinahe die Tränen in die Augen. Wie konnten in ein und derselben Welt gleichzeitig diese seelenlosen Wesen dort hinten in dem Dorf und eine nach taufeuchter Erde duftende Morgenbrise existieren? Und dazu Chade, der mit so normaler, gelassener Stimme sprach? »Diese Dorfbewohner sind ganz gewöhnliche Sterbliche, Junge, aber sie haben Furchtbares erlebt und benehmen sich deshalb seltsam. Ich kannte ein Mädchen, das mit angesehen hatte, wie sein Vater von einem Bären getötet wurde. Bei ihr war es ganz ähnlich. Mehr als einen Monat saß sie einfach nur da, starrte vor sich hin, stieß unartikulierte Laute aus, wenn man sie anredete, und sie wäre ganz verkommen, wenn man sie nicht gefüttert und sauber gehalten hätte. Diese Menschen werden sich wieder erholen, sobald sie in ihr alltägliches Leben zurückgefunden haben.«
»Jemand ist vor uns!«, warnte ich ihn. Ich hatte nichts gehört und nichts gesehen, doch hatte ich mit dem neuen Sinn, dessen ich mir heute bewusst geworden war, ein Zupfen an jenem unsichtbaren Spinngewebe gespürt. Als wir nach vorn schauten, zeigte sich, dass wir uns dem Ende einer traurigen Prozession
näherten. Einige der Leute führten Packtiere mit sich, andere schoben oder zogen Karren, die mit einem Sammelsurium von Habseligkeiten beladen waren. Sie warfen uns über die Schulter Blicke zu, als wären wir wie aus dem Nichts erschienene Dämonen, die sie verfolgten.
»Der Narbenmann!«, schrie einer, hob die Hand und zeigte auf uns. Sein Gesicht war ausgemergelt vor Müdigkeit und bleich vor Schrecken. »Die Legenden erwachen zum Leben«, warnte er die anderen, die angstvoll stehen geblieben waren. »Seelenlose Gespenster wandern durch die Ruinen unseres zerstörten Heimatdorfs, und der Narbenmann bringt die Seuche über uns. Wir haben ein zu gutes Leben geführt, und die alten Götter wollen uns strafen. Unsere fetten Jahre werden noch unser aller Tod sein.«
»Verdammt noch mal, ich wollte nicht so gesehen werden«, schnaufte Chade mit zusammengebissenen Zähnen. Seine mageren Hände nahmen die Zügel auf und zogen den Braunen herum. »Komm mit, Junge.« Ohne den Mann anzusehen, der immer noch mit einem zitternden Finger auf uns wies, lenkte er sein Pferd langsam, beinahe gemächlich, vom Weg herunter und einen grasbewachsenen Hang hinauf. Sein Verhalten erinnerte an Burrich, wenn er sich einem misstrauischen Pferd oder Hund gegenübersah. Der müde Braune verließ den ebenen Weg nur widerwillig, dennoch trug er Chade zum Rand eines Birkenwäldchens auf der Hügelkuppe. Ich starrte ihm verständnislos hinterher. »Komm mit mir, Junge«, rief er mir über die Schulter zu, als ich noch zögerte. »Willst du auf der Straße gesteinigt werden? Das ist keine sonderlich angenehme Erfahrung.«
Ich folgte seinem Beispiel und tat so, als wäre ich mir der Flüchtlinge vor uns gar nicht bewusst. Sie verbreiteten eine Aura
von Hass und Angst, und das Gefühl davon manifestierte sich wie ein schwärzlichroter Fleck auf dem frischen neuen Tag. Ich sah, wie sich eine Frau bückte und wie sich ein Mann von seinem Karren abwandte.
»Sie kommen!«, warnte ich Chade, gerade als die feindselige
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