Fitz der Weitseher 01 - Der Weitseher
der Geruch des Meeres in die Nase stieg. Es war immer noch sehr früh, als wir von einer Klippe auf den Ort Ingot hinunterschauten. Es war ein in mancher Hinsicht armseliges Kaff, der Hafen taugte nur bei günstigen Gezeiten. Die übrige Zeit mussten die Schiffe weiter draußen ankern, während kleinere Boote als Zubringer dienten. Der einzige Grund, dem Ingot seinen Platz auf der Landkarte verdankte, war den Eisenerzvorkommen dieser Gegend geschuldet. Ich hatte nicht erwartet, ein blühendes Gemeinwesen vorzufinden, doch ebenso wenig war ich auf die Rauchsäulen vorbereitet, die sich aus schwarzen Häuserruinen in den Himmel kräuselten. Von irgendwoher ertönte das klagende Muhen einer Kuh, die darauf wartete, gemolken zu werden. Einige Boote dümpelten draußen vor der Küste, ihre Masten reckten sich in die Höhe wie abgestorbene Bäume.
Der Morgen sah menschenleere Straßen vor sich. »Wo sind die Einwohner?«, fragte ich mich laut.
»Tot, gefangen oder immer noch in den Wäldern versteckt.« Erstaunt von Chades Tonfall blickte ich zu ihm hin. Ich war erstaunt über den Schmerz, der in seinen Zügen zum Ausdruck
kam. Er bemerkte meinen Blick und zuckte die Schultern. »Du wirst das Gefühl mit den Jahren kennenlernen. Man erbt es mit dem Blut.« Mir blieb es überlassen, daraus klug zu werden, während er die Zügel aufnahm und sein müder Brauner sich widerstrebend in Bewegung setzte.
Die langsame Gangart zu reiten schien die einzige Vorsichtsmaßnahme zu sein, die Chade für notwendig hielt. Nur zu zweit, waffenlos, auf erschöpften Pferden, und wir näherten uns einem Ort, wo …
»Die Korsaren sind weg, Junge. Ein Piratenschiff lässt sich nicht ohne eine vollständige Rudermannschaft bewegen und manövrieren. Nicht bei den Strömungen in diesem Küstenabschnitt. Noch ein Rätsel. Woher hatten sie eine ausreichende Kenntnis der Gewässer hier, um den Überfall gefahrlos durchführen zu können? Und warum ein Überfall ausrechnet hier auf Ingot? Um Eisenerz zu rauben? Viel einfacher wäre es doch für sie, einen Erzfrachter zu kapern. Das ergibt keinen Sinn, Junge. Das ergibt einfach keinen Sinn.«
In der Nacht hatte sich Tau über den Ort gelegt, und über den Häusern hing der Gestank feuchter Asche. Hier und dort schwelte noch Glut unter den Trümmern. Vor einigen Ruinen lag Hausrat auf der Straße verstreut. Entweder hatten die Bewohner versucht, einige ihrer Habseligkeiten zu retten, oder die Piraten hatten die Gegenstände als Beute mitgeschleppt und dann den Spaß daran verloren. Eine Salzdose ohne Deckel, etliche Meter grüner Wollstoff, ein Schuh, ein zerbrochener Stuhl: der ganze Plunder war ein stummer Zeuge der brutalen Vernichtung, mit der Frieden und Geborgenheit in den Staub getreten wurden. Ein düsterer Schrecken ergriff von mir Besitz.
»Wir kommen zu spät«, bemerkte Chade leise. Er zügelte den Braunen, und Rußflocke blieb neben ihm stehen.
»Was ist?«, fragte ich verwirrt, ganz aus meinen Gedanken aufgeschreckt.
»Die Geiseln. Sie haben sie zurückgeschickt.«
»Wo?«
Chade schaute mich ungläubig an, als wäre ich nicht ganz bei Verstand oder einfach nur sträflich dumm. »Dort. In den Trümmern des Hauses dort drüben.«
Es ist schwer zu beschreiben, was in den nächsten Augenblicken meines Lebens mit mir geschah. So vieles geschah auf einmal und stürmte auf mich ein. Ich hob den Blick und sah eine Gruppe von Menschen, Männer, Frauen und Kinder sämtlicher Altersstufen, die in dem niedergebrannten Haus nach Brauchbarem suchten. Sie waren zerlumpt und schmutzig, doch schien sie das nicht weiter zu stören. Während ich zuschaute, griffen zwei Frauen nach demselben großen Kessel und gerieten sich sofort in die Haare. Ich musste dabei an zwei Krähen denken, die sich um eine Käserinde zankten. Sie keiften und spuckten und warfen sich die abscheulichsten Schimpfwörter an den Kopf, während jede an ihrem Henkel in die entgegengesetzte Richtung zog. Die anderen ringsum schenkten ihnen keine weitere Beachtung, sondern fuhren fort, ihrerseits zu plündern, was sie nur finden konnten.
Ich wunderte mich. In den Geschichten war stets die Rede davon gewesen, wie sich die Dorfbewohner nach einem Überfall zusammentaten und gegenseitig halfen. Diese Leute jedoch schien es nicht zu kümmern, dass sie fast ihren gesamten Besitz verloren hatten und dass Angehörige und Freunde bei dem Überfall ums Leben gekommen waren. Stattdessen neidete einer dem anderen die kärglichen
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