Fitz der Weitseher 02 - Der Schattenbote
wohin alle Blicke gerichtet zu sein schienen. Ein kurzes Flackern, und für einen Moment brannte eine der weißen Kerzen dort mit blauer Flamme, dann knisternd eine zweite. Wieder ging ein lei ses Gemurmel durch die Rei hen, aber die launischen Wachslichte hatten sich schnell wieder beruhigt und brannten ru hig weiter, als wäre nichts gewesen. We der Kett ricken noch König Listenreich schienen davon Notiz genommen zu haben. Nur der Narr schüttelte tadelnd sein Rattenzepter in Richtung der unbotmäßigen Kerzen.
Endlich erschien Edel, der in rotem Samt und weißer Seide erstrahlte. Ein kleines Mädchen ging vor ihm her und schwenkte ein mit Sandelholz gefülltes Räuchergefäß. Edels Lächeln überstrahlte uns alle, während er sich gemessenen Schrittes dem Thron näherte, doch verstand er es auf dem Weg durch das Spalier der Gäste, seine Anhänger mit einem Blick oder einem Kopfnicken besonders auszuzeichnen. Der Anfang war vielversprechend, aber ich bin sicher, der Rest der Zeremonie verlief nicht so reibungslos, wie Edel es geplant hatte. König Listenreich stammelte vor sich hin und schaute dann verwirrt auf die Schriftrolle, die man ihm gegeben hatte, damit er sie verlas. Endlich nahm Kettricken ihm das Pergament aus den zitternden Händen, und er blickte lächelnd zu ihr auf, wäh rend sie die Worte vorlas, die ihr ins Herz schneiden mussten. Es war die vollständige Auflistung der Kinder, die König Listenreich gezeugt hatte. Selbst eine sehr jung gestorbene Tochter
wurde darin erwähnt. Alle seine Nachkommen wurden erst nach dem Datum ihrer Geburt und dann nach dem Datum ihres Todes genannt, bis die Liste zu Edel als dem einzigen Überlebenden und rechtmäßigen Erben kam. Kettricken stockte kein einziges Mal - auch nicht, als sie zu Ve ritas’ Namen kam -, sondern las mit fester Stimme die kurze Anmerkung vor: »Während einer Reise zum Bergreich durch Unglücksfall zu Tode gekommen«, als wäre sie Bestandteil einer Zutatenliste. Das Kind, das sie trug, blieb unerwähnt. Ein ungeborenes Kind war formell ein Erbe, aber nicht König oder zur Thronfolge bestimmt. Erst mit wenigstens sechzehn Jahren konnte man diesen Titel beanspruchen.
Kettricken hatte aus Veritas’ Truhe den einfachen Silberreif mit dem blauen Stein ge nommen, was die Krone für den Thron folger war, und dazu die Kette aus Gold und Smaragden in Gestalt eines springenden Rehbocks. Beides gab sie König Listenreich, der darauf niedersah, als wüsste er nichts damit anzufangen. Schließlich griff Edel danach, und der König duldete, dass er ihm das Geschmeide aus den Händen nahm. Dann setzte sich Edel die Krone auf, hängte sich die Kette um den Hals und stand vor uns als neuer Thronfolger der Sechs Provinzen.
Chades Zeitplanung war ungenau. Die Kerzen begannen erst zu zischen und blaue Funken zu sprühen, als die Herzöge vortraten, um erneut dem Haus Weitseher Treue und Gefolgschaft zu schwören. Edel bemühte sich, das Phänomen zu ignorieren, bis das aufbrausende Stimmengemurmel den Eid des Herzogs Ram von Tilth zu übertönen drohte. Dann drehte er sich wie selbstverständlich um und drückte die störende Kerze aus. Ich bewunderte ihn für sein sicheres Auftreten, besonders weil fast im selben Moment eine zweite Kerze sich blau färbte und er ihr sofort ebenfalls den Garaus machte. Ich für meinen Teil hielt es von Chade als etwas dick aufgetragen, als dann noch eine Fackel in dem Wandhalter
neben der großen Flügeltür plötzlich unter furchtbarem Gestank eine blaue Stich flamme ausstieß und da raufhin zuckend erlosch. Alle Augen hatten sich dorthin gerichtet. Edel wartete scheinbar gelassen ab, doch ich sah, wie es in ihm arbeitete und wie die kleine Ader an seiner Schläfe heftig pochte.
Ich weiß nicht, was er sich zu vor zum Abschluss seiner Zeremonie ausgedacht hatte, denn nach diesen Vorfällen kam er ziemlich abrupt zum Ende. Auf sein schroffes Zeichen hin griffen die Musikanten in die Sai ten, die Türen öffneten sich, und Män ner trugen bereits mit Speisen beladene Tischplatten herein, Burschen mit den Tischgestellen kamen hinterhergelaufen. Wenigstens für dieses Fest zu sei nen Ehren hatte er an nichts gespart und die schön angerichteten Braten und Pasteten wurden freudig willkommen geheißen. Falls es an Brot zu mangeln schien, beschwerte sich niemand deswegen. Im kleinen Saal war für die königliche Familie und den Hochadel gedeckt, und dort hin sah ich Kett ricken König Listenreich geleiten, gefolgt von dem
Weitere Kostenlose Bücher