Fitz der Weitseher 02 - Der Schattenbote
für Edels Rage klar. Kettricken stand auf dem Bock ei nes Kutschwagens, und alle Ge sichter waren zu ihr emporgewandt. Sie trug dieselben Kleider wie am Abend zu vor. Bei Tageslicht konnte ich die Blutspritzer am Ärmel der weißen Pelzjacke sehen. Ein größerer Schwall hatte ihre purpurne Hose besudelt. Sie war gestiefelt und gespornt, bereit zum Aufbruch, sogar ihr Schwert trug sie an der Hüfte. Ich war bestürzt. Wie konnte sie nur? Ich war gerade zu ei nem Moment erschienen, in dem große Ruhe herrschte. Jeder Mann, jede Frau schien den Atem anzuhalten und auf ihre nächsten Worte zu warten. Endlich fuhr Kettricken mit ih rer Rede fort. Sie brauchte kaum die Stim me zu erheben, so auf merksam und schweigend lauschte ihr die Menge.
»Ich wiederhole es noch ein mal, dies ist kein gewöhnlicher Jagdausflug«, sagte sie ernst. »Macht ein Ende mit der unziemlichen Fröhlichkeit. Legt euren Schmuck ab, jedes Abzeichen von
Rang und Stellung. Lasst Demut in eure Herzen einziehen und bedenkt, was wir im Begriff sind zu tun.«
Sie sprach immer noch mit dem Akzent ihrer Bergheimat, doch ein nüchterner Teil meines Verstandes registrierte, wie sorgfältig ausgewählt jedes einzelne Wort war, wie ausgewogen jede Formulierung.
»Wir ziehen nicht aus, um zu ja gen«, wiederholte sie, »sondern um unsere Gefallenen heimzuholen. Wir ziehen aus, um jene zur Ruhe zu betten, die die Roten Korsaren uns geraubt haben. Die Roten Korsaren haben den Ent fremdeten das Herz ge nommen und uns nur ihre Körper gelassen, damit sie uns quä len. Dennoch sind jene, die wir heute töten werden, von unserem Volk. Unsere Landsleute.
Soldaten, nicht Hass soll eure Pfeile beflügeln, nicht Rachedurst eure Schwerter lenken. Wir alle haben genug gelitten, es soll jeder Tod heute so gnädig sein, wie der Tod nur gnädig sein kann, um unser aller willen. Wappnen wir uns, aus unserer Mitte zu entfernen, was uns vergiftet, mit ebensolcher Entschlossenheit und ebensolchem Bedauern, wie man ein verstümmeltes Körperteil vom Körper trennt. Denn das ist es, was wir wollen - nicht Vergeltung, sondern Amputation, auf die Heilung folgt. Darum handelt nach meinen Worten.«
Sie verstummte und schaute einige Minuten still auf uns hinunter. Wie in einem Traum befangen, gerieten die Menschen in Bewegung. Jäger entfernten Federn und Bänder, Zierat und Schmuck von ihrer Kleidung und übergaben alles den Pagen. Die aufgeregte und prahlerische Stimmung von eben war verflogen. Kettricken hatte die Fassade der Selbsttäuschung eingerissen und die Menschen gezwungen, der Wahrheit ins Auge zu blicken. Ernüchterung war die Folge. Währenddessen wartete Kettricken schweigend und regungslos ab, und erst als sie sah, dass ihr wieder die
ungeteilte Aufmerksamkeit der Versammelten gehörte, ergriff sie erneut das Wort.
»Gut«, lobte sie uns ernst. »Und nun hört mir aufmerksam zu. Ich will, dass man Pferdesänften anspannt oder Wagen, was immer ihr aus den Ställen für das Beste haltet. Sie sollen mit Stroh ausgepolstert sein. Nicht einen der Unseren werden wir den Füchsen zur Nahrung überlassen oder den Krä hen. Wir bringen sie mit uns zurück, man wird ihre Namen aufschreiben und einen Scheiterhaufen vorbereiten, damit ihre sterbliche Hüllen von den Flammen verzehrt werden, wie es für alle ehrenvoll im Kampf Gefallenen Brauch ist. Wo die Fa milien bekannt sind und in der Nähe wohnen, soll man sie zum Leichenfeier laden. Jene, die weiter entfernt sind, erhalten Nachricht und den Dank, der allen gebührt, deren Blutsverwandte als Soldaten das Leben verloren haben.« Unwillkürlich liefen ihr Trä nen über die Wangen, und in der blassen Wintersonne glitzerten sie wie Diamanten. Mit erstickter Stimme wandte sie sich an eine andere Gruppe. »Ihr Küchengesinde, Knechte und Mägde, deckt in der großen Halle die Tische und bereitet ein Totenmahl vor. In die kleine Halle bringt Wasser und Kräuter und rei ne Tücher, damit wir die Lei chen waschen und würdig verhüllen können. Ihr anderen, vergesst für heute eure gewöhnlichen Pflichten, bringt Holz und er richtet den Scheiterhaufen. Wir werden zurückkehren, um unsere Toten zu verbrennen und zu beweinen.« Sie schaute in die Runde und erwiderte die Blicke der Menschen, die zu ihr aufsahen. Dann verhärteten sich ihre Züge. Sie zog ihr Schwert und reckte es zum Schwur in die Höhe. »Doch wenn wir ge nug getrauert haben, werden wir sie rächen! Jene, die uns dieses Leid zugefügt haben, werden unsern Zorn
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