FJORD: Thriller (German Edition)
haben, dass … er versuchte sich zu erinnern, was danach geschehen war, wer es gewesen war, aber er konnte es nicht. Es war, als würde jeder Versuch, sich zu erinnern, den nebelhaften Gestalten in seinem Kopf auch noch die letzten Konturen nehmen. Sie zerflossen, ohne preiszugeben, wer sie waren.
Erik schloss die Augen und versuchte, das Bild wiederherzustellen. Vergeblich. Leicht verärgert über seine Unfähigkeit atmete er tief durch. Die Arbeit wartete. Er musste aufstehen. In Gedanken ging er durch, was heute anstand. Das Übliche. Dann noch die bestellte Torte für eine Geburtstagsfeier. Ein wenig Abwechslung. Noch ein tiefer Atemzug … aber irgendetwas stimmte nicht. Plötzlich wandelte sich der angenehm duftende Holzgeruch in beißenden Gestank. Die Polarlichter wurden zu flackernden Flammen. Es kratzte in seinem Hals. Erik begriff.
»Feuer!« wollte er schreien, doch kein Wort kam über seine Lippen. Als würde ein Pfropfen in seiner Kehle stecken. Panik nahm ihn in Besitz. Plötzlich war er hellwach. Das Blut schoss ihm in den Kopf. Sein Herz pumpte mit Höchstleistung. Er sprang aus dem Bett. Seine Beine fühlten sich taub an, und nur mit Mühe gelang es ihm, zum Fenster zu gehen. Er öffnete es und sah hinaus. Offensichtlich kamen Flackern und Gestank von oben, vom Speicher. Er musste die anderen warnen, aber es ging nicht! Wie sollte er sich bemerkbar machen?
Ein lauter Knall. Die Erschütterung war im ganzen Haus spürbar. Erik sah zum Bett hinüber, wo Ann Christin sich aufgesetzt hatte und versuchte, das Geräusch zu identifizieren, das sie aufgeweckt hatte. Bleich wie ein Gespenst saß sie da.
Erik konnte ihre Untätigkeit nicht fassen. Sah sie denn nicht, was hier los war? Es brannte! Lebensgefahr! Wo ist Jan? Er fühlte schon seine Sinne schwinden, als es mit einem Mal doch noch aus ihm herauszuströmen begann: »Feuer!«, sagte er zunächst leise, dann lauter, und schließlich schrie er aus Leibeskräften. »Feuer! Feuer! Feuer!«
Ann Christin begriff. Das Haus brannte! Die Flammen fraßen sich bereits durch die Decke. Noch war der Weg zur Tür frei, aber jeden Moment konnte die Decke auf sie herabstürzen.
Erik riss seine Frau aus dem Bett und schob sie hastig Richtung Tür. »Raus! Wir müssen hier raus! Schnell!«
»Die Kinder! Oh mein Gott, die Kinder!« Ann Christin rannte auf den Flur. Auch hier fraß sich das Feuer schon durch die Decke. Der Rauch schmerzte ihn ihren Lungen. Sie hustete und suchte nach den Türklinken, die in den Schwaden nicht mehr zu erkennen waren, stolperte gegen das kleine Schränkchen, riss Vasen und anderes um, das darauf stand, tastete sich weiter. Ihr Husten wurde schlimmer. Sie sackte mehrmals in die Knie.
Erik packte sie und schob sie zur Treppe. »Raus!«, röchelte er hastig. »Ich hol Jan. Ruf Gunnar!«
Sie wollte sich weigern, aber er war schon im Dunst hinter ihr verschwunden. Sie hatte keine Kraft, ihm zu folgen. Was hatte er gesagt? Gunnar anrufen. Klar – die Feuerwehr! Sie stolperte die Treppe hinab. Bis hierher war das Feuer noch nicht gekommen. Sie rannte zur Haustür, riss an ihr, doch sie war verschlossen. Mit zitternden Fingern drehte sie den im Schloss steckenden Schlüssel, eilte hinaus, hustete und nahm einen Zug sauberer Luft. Dann schrie sie aus Leibeskräften: »Feuer! Helft uns! Feuer! Feuer!«
20
Gunhild Paulsen war in den Armen ihres Mannes zusammengebrochen. Sie lag im Bett des Schlafzimmers der Suite, in dem Noah ihnen die Nachricht vom Tod ihrer Tochter überbracht hatte. Noah hatte sich gezwungen gesehen, der von Weinkrämpfen geschüttelten Frau eine Beruhigungsspritze zu geben. Die Aufregung war zu viel für sie und ihren hohen Blutdruck. Da sie ohnehin schon mit ihrer Diabetes zu kämpfen hatte, war er äußerst besorgt um ihre Gesundheit. Inzwischen auch um seine, er hatte die ganze Nacht nicht geschlafen. Er glaubte, den Schlaf auch nicht nachholen zu können.
Ihr Sohn Gunnar, zwei Jahre älter als Liv, saß seit dem Abend an ihrer Seite, hielt die Hand seiner Mutter und streichelte sanft darüber. Er sprach beruhigend auf sie ein. Sie wimmerte in ihrem Dämmerzustand. Sie ganz in den Schlaf zu versetzen, hätte Noah aufgrund ihrer Krankengeschichte nicht gewagt. So bekam sie alles mit, was um sie herum passierte, wenn auch wie in Watte gepackt.
Magnus Paulsen strich unruhig durch den Raum. Er versuchte, die Zusammenhänge um den Mord an Liv zu verstehen und gleich hier im Zimmer aufzuklären, und fragte
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