FJORD: Thriller (German Edition)
Nichts.
Die Gegend barg viele Gefahren für kleine Kinder ohne Aufsicht. Erik wollte gar nicht daran denken, was Aurora zugestoßen sein könnte, wenn der Schwarze Mann mehr als nur ein Produkt der Phantasie seines Sohnes war. Hoffentlich handelte es sich nur um einen dummen Zufall, und man würde seine Nichte bald finden.
Er folgte einem Bauchgefühl und schlich davon, Richtung Hafen. Sein Zustand hatte irgendetwas mit dem Fjord zu tun. Das Wasser, der Nebel, das schreckliche Gesicht, das ihm in der letzten Nacht ins Bewusstsein gekrochen war. Hatte die Erscheinung etwas mit Liv Paulsens Tod zu tun? Hatte er selbst etwas damit zu schaffen? Er wollte nach seinem Boot sehen. Vielleicht fand er dort einen Hinweis, der ihm die Erinnerung zurückbringen könnte.
Er kam zu seinem Anlegeplatz, doch sein Ruderboot war nicht da. So ging er weiter und fand es schließlich notdürftig befestigt neben Nils Haugens Kutter. Ein Ruder fehlte. Erik setzte sich hin und ließ die Unterschenkel über den Rand des Stegs baumeln.
Was war mit ihm passiert? Offensichtlich spielte sein Boot eine Rolle. Wieso sollte es sonst an diesem Platz liegen, mit nur einem Ruder? Doch er konnte sich an nichts außer dem Traum mit dem hässlich verzerrten Antlitz erinnern. War es ein Traum gewesen? Und warum war sein Haus in Flammen aufgegangen? Hatten beide Ereignisse miteinander zu tun? Weshalb waren Sigrid und Aurora bei ihm, ohne dass er davon wusste? Aurora … wo konnte sie nur stecken?
Aurora war ein liebes, aber stilles Kind, das sich bei Gefahr immer zurückzog. Erik erinnerte sich, als er in ihrem Beisein einmal lautstark mit Jan geschimpft hatte. Ohne dass es jemand bemerkt hatte, war Aurora aus dem Zimmer geschlichen und hatte sich im Wandschrank in der oberen Diele versteckt. Zwischen dem Winterbettzeug, ein Laken über den Kopf gezogen, damit niemand sie sehen konnte. Sie hatten fast eine Stunde lang nach ihr gesucht.
Dieses Verhalten musste seine Ursache haben. Erik wollte den Gerüchten um Runars Gewalttätigkeit gegenüber Sigrid lange keinen Glauben schenken. Es war zu absurd. Früher waren sie Freunde gewesen. Runar war der Weiberheld und Erik der Besonnene. Runar hatte es nie nötig gehabt, eine Frau zu schlagen, sie fielen ihm stets zu Füßen und taten, was er wollte. Sie liebten seinen rauen Charme. Seine teils derben Witze zwangen ihnen die Röte ins Gesicht. Sie kicherten und hängten sich gleich darauf bei ihm ein. Runar war genau der Typ Mann, auf den Frauen flogen, während sie sich für ihr Zuhause langweiligere Typen wünschten. Erik hatte es nie verstanden. Nachdem es nun aber die Gerüchte gab und Runar dann noch ständig mit Sven Larsen zusammenhockte, zog Erik sich zurück. Larsens Ruf war schlecht. Und ob nun Gerücht oder Wahrheit, Erik wollte mit diesem windigen Typen nichts zu tun haben. Aber Runar war der Mann seiner Schwester. Niemals hätte er Hand an sie gelegt… Das gebot doch der Freundschaftskodex, oder nicht?
Zunächst glaubte Erik den Erklärungen Sigrids, wenn er sie nach dem Grund für ihre blauen Flecken oder andere Verletzungen fragte. Er war arglos. In den letzten Monaten häuften sich jedoch die »Missgeschicke« seiner Schwester. Doch er war zu sehr mit Anni und Odin und deren Problemen beschäftigt gewesen, um sich auch noch um seine Schwester kümmern oder Runar zur Rede stellen zu können. Zusammen mit dem Bäckereibetrieb beanspruchten seine Sorgenkinder seine ganze Zeit und Aufmerksamkeit. Nur noch selten ging er aus dem Haus. Neulich, da konnte er sich endlich mal für ein paar Stunden freimachen, fuhr zum Angeln in den Fjord und …
Die Erinnerung traf ihn wie der Blitz. Fetzen von Bildern flogen vor seinem inneren Auge vorbei. Liv auf dem Sommerfest. Wie sie sich auf seinen Schoß setzte und er sie beschämt wegschubste. Annis Blick. Liv, in ihren schwarzen Klamotten, das stechende Rot der Rose auf ihrem Hals, ausgelassen tanzend. Dann Liv am Boden. Das Kleid nass und zerrissen, die Rose schien auf der bleichen Haut zu welken. Ihr Schädel war zerschlagen. Er drehte sie um und eine abartige Fratze starrte ihn an. Die Fratze! Der Kopf fiel zur Seite, der Hals gab nach. Ein knöchernes Geräusch. Wie ein letzter Seufzer entwich Luft aus dem Körper. Und dann? Panik. Er war in Panik geraten. War ins Boot gestürzt, wollte weg. Doch dann? So sehr er sich auch mühte – er konnte sich nicht mehr erinnern.
Liv war tot. Tot! Und er hatte sie gesehen. Er wusste es. Seine Hände
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