Flagge im Sturm
sein Gesicht hätte erkennen können, doch der edle braune Hengst war ihr bekannt, und deshalb wusste sie sofort, um wen es sich bei ihrem Besucher handelte: Ebens Bruder Roger.
„Aller schlechten Dinge sind drei“, hatte ihre Mutter immer scherzhaft gesagt, und das schien sich zu bewahrheiten: Piraten, Jonathan und nun auch noch Roger.
Langsam stieg sie von der Mauer hinab. Sie wünschte, sie hätte sich erst gar nicht gezeigt und könnte jetzt so tun, als wäre sie nicht daheim. Seit Ebens Beerdigung hatte sie Roger nicht mehr gesehen, und sie konnte sich nicht vorstellen, was ihn heute hergeführt haben sollte. Zwischen den beiden Männern hatte nie die große Liebe geherrscht, zumal sie ja auch nur Halbbrüder waren. Rogers Mutter war die zweite Mistress Allyn gewesen, und zwanzig Lebensjahre lagen zwischen den beiden Brüdern.
Es war jedoch mehr als nur das Alter, das die beiden trennte. Wie Eben, so hatte auch Roger Nantasket verlassen, sobald es ihm möglich war, doch während Eben zur See ging, war Roger nie weiter als bis nach Newport gereist. Dort wurde er ein erfolgreicher Kaufmann und heiratete in eine der reicheren Familien der Stadt ein.
Eben hatte Roger als einen Tunichtgut und eitlen Pfauenhahn bezeichnet, wobei er das „Hahn“ immer zu betonen pflegte. Selbst Demaris hatte nicht überhören können, dass diese Beleidigung mehr mit Rogers Männlichkeit zu tun hatte als mit der Art, wie er sich kleidete.
Dennoch wäre Demaris bereit gewesen, die Streitereien nach Ebens Tod zu beenden. Dem standen jedoch zwei Tatsachen entgegen. Erstens war Roger der von Königin Anne bestellte Oberste Richter am Seegericht von Newport, und zweitens lebte Demaris davon, dieselben Zölle zu hinterziehen, die Roger einzutreiben hatte. Wie hatte Eben es doch immer genossen, das Fuhrwerk mit van Veres Brandy direkt unter den Fenstern von Rogers elegantem neuen Haus vorbeizulenken!
Sie wünschte, sie besäße etwas von Ebens Unverschämtheit, wenn sie jetzt an die Fässer dachte, die ordentlich gestaut in der Felshöhle am Strand lagerten. Eben hatte immer geschworen, Roger hätte keine Ahnung von der Verwendung der Kaverne, trotzdem wuchs jetzt Demaris’ Unbehagen.
Schmuggler, auch wenn sie zur Familie gehörten, konnten erhängt werden oder, wenn sie Glück hatten, im Gefängnis verschmachten. Sie selbst würde auf jeden Fall Nantasket verlieren, und selbst falls die Brüder Reed und die Turners nicht mit ihr eingesperrt würden, würde der neue Grundbesitzer sie sehr wahrscheinlich vertreiben.
Weshalb war Roger hier aufgetaucht?
Gerade kam er um die Mauer in den Hof geritten. Er zog den Hut und schwenkte ihn mit einer weit ausholenden Bewegung. Demaris wurde immer misstrauischer. So eine Galanterie machte sich wahrscheinlich sehr gut in Newport, doch Quäker zogen den Hut vor niemandem, und deshalb irritierte diese Geste sie auch erheblich.
Mit dem Dreispitz noch in der Hand glitt Roger elegant aus dem Sattel. „Schwägerin Demaris, dir einen guten Tag! “, grüßte er überschwenglich. Dass er nicht willkommen geheißen wurde, nahm er nicht zur Kenntnis.
Roger sah besser aus als Eben. Er hatte wache dunkle Augen und ein schmales, kantiges Gesicht. Seine Halsbinde war makellos, und eine schräg über der Brust gebundene hellblaue Schärpe schmückte seinen dunkelvioletten Rock. Seine rehbraunen Stiefel taugten nur zum Reiten und hatten so hohe Absätze, dass er damit beinahe ebenso groß war wie Demaris.
„Es ist schon viel zu lange her, seit wir dich zuletzt in der Stadt gesehen haben, meine Liebe.“
„Guten Tag, Roger“, erwiderte sie ernst. Sie wusste, es war natürlich niederträchtig von ihr, doch sie hoffte, dass Rogers Haare unter der langen Lockenperücke ebenso ausgefallen waren wie Ebens. „Solltest du mich in Newport gesucht haben, so scheinst du vergessen zu haben, dass ich noch um deinen Bruder trauere. Die Vergnügungen in deiner Stadt interessieren mich recht wenig. “
Roger überhörte diesen Seitenhieb. „Du hast dich während des ganzen Winters hier draußen verkrochen. Der alte Ebenezer hätte ganz bestimmt nicht gewollt, dass du seinetwegen so voller düsterer Trauer bist.“
„Dann scheinst du vergessen zu haben, dass ich schon vor seinem Tod den weltlichen Vergnügungen nicht viel abzugewinnen vermochte.“
„Ein Besuch in unserem Haus würde dich schwerlich in die Hände des Teufels bringen, Demaris. Evelyn fragt so oft nach dir und würde sich sehr freuen, wenn du
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