Flagge im Sturm
geschrieben hatte, war ihm klar geworden, wie vorteilhaft ihre Anwesenheit für ihn wäre. Sie war die Ruhe selbst. Sie würde auch die Dienerschaft beruhigen und - hoffentlich! - deren Klatsch eindämmen. Demaris würde sich auch um Evelyns Beerdigung kümmern.
Obwohl sie sich mit ihren Glaubensgenossen überworfen hatte, besaß sie noch immer den makellosen Ruf einer untadeligen Frau. Wenn sie, die Witwe seines Bruders, ihm zur Seite stand, würde er das Bild eines trauernden, hilflosen Hinterbliebenen abgeben, und das würde auch die schärfsten Zungen zum Schweigen bringen.
Wenn sich seine liebe Schwägerin dann erst einmal in seinem Haus befand, gelang es ihm möglicherweise, sie zum Bleiben zu überreden, und dann würde ihm die Felsenhöhle vom Nantasket gehören.
Ohne darauf zu warten, dass man sie anmeldete, trat Demaris herein. Sie streckte Roger die Arme entgegen, und in ihren Augen schimmerten Tränen. „Es tut mir ja so leid für dich, Roger. Ich verstehe am besten, was man empfindet, wenn man seinen Lebensgefährten auf solche Weise verliert. Wenn ich an die lachende, junge Evelyn denke, vermag ich gar nicht zu glauben, dass sie von uns gegangen ist. “
„Es war sehr gütig von dir, zu kommen, Schwägerin.“ Roger nahm ihre Hände in seine und küsste Demaris auf die Wange. Obwohl sie ihr Haar ordentlich wie immer unter der kleinen Haube zusammengesteckt trug, waren ihr Rock und ihre Schürze zerknittert, und ihre Wangen zeigten sich von der Sonne gerötet, wie die einer ganz gewöhnlichen Farmersfrau.
Und genau das ist sie ja auch, sagte sich Roger, eine Landfrau ohne den Stil, die Haltung und die Koketterie, die er an Damen so liebte. Dennoch erschien sie ihm an diesem Morgen ein wenig verändert, ohne dass er diese Veränderung ganz genau hätte benennen können.
„Wie kann ich dir helfen, Roger?“, fragte sie.
„Deine Anwesenheit hier ist mir Hilfe genug, Demaris“, antwortete er, und das meinte er ehrlich. Schon half ihm ihre sanfte Stimme, Evelyns letzte Schreie zu vergessen, und zum ersten Mal nach dem Sturz seiner Gattin konnte er wieder klar denken.
Selbstverständlich hatte er Evelyns Vater über deren Tod informiert, und eigentlich sollte er heute zu dem alten Herrn gehen. Es war eine Schande, dass Evelyn vor dem Alten ge-storben war und dass das Stoddard-Vermögen jetzt nicht mehr in Rogers Taschen floss. Dabei benötigte er doch gerade jetzt jede Münze, derer er habhaft werden konnte. Es hätte gar nicht schlimmer kommen können. Wenn er ganz aufrichtig war, musste er zugeben, dass er über Evelyns Tod schneller hinwegkommen würde, als über den Verlust ihres Einkommens.
„Roger?“, fragte Demaris besorgt. „Ist dir nicht wohl? Ich weiß - der plötzliche Schlag. Komm, setz dich lieber.“ Er ließ sich von ihr zu einem Sessel führen und beobachtete sie, während sie ihm ein Glas Wasser einschenkte und es ihm brachte. Ihre Bewegungen waren ungemein anmutig, das hatte er früher nie bemerkt. Vielleicht hatte ihn das Glück ja doch nicht ganz verlassen. Als Frau war Demaris nicht gerade nach seinem Geschmack, doch sie würde Nantasket als Mitgift einbringen, und wenn man den richtigen Käufer dafür fand, würde das Farmland ein Vermögen wert sein.
Demaris reichte ihm das Trinkglas und wartete dann unsicher mit vor der Schürze gefalteten Händen. Selbstverständlich hatte Trauer viele Gesichter, doch Rogers eigenartiges Lächeln und seine träumerischen Augen waren richtig beunruhigend. Außerdem empfand sie es als eine unangebrachte Intimität, dass er sie im Schlafrock, mit kahlrasiertem Kopf und ohne Perücke empfangen hatte.
Noch übler war es, dass sie bei seinem Anblick unwillkürlich an Jonathan denken musste und daran, was sie vor wenigen Stunden miteinander in der Küche getan hatten. Wie gerne wäre sie jetzt wieder in Nantasket gewesen, sodass sie ihm alle Geheimnisse ihres Herzens hätte erzählen und erfahren können, ob die Freude, die sie in seinen Armen gefunden hatte, mehr als nur ein Traum gewesen war.
Sie errötete, und das war ihr sehr peinlich. Rasch senkte sie den Kopf und hoffte, Roger würde nichts bemerken. Zum Glück konnte er ja nicht ihre Gedanken lesen. Da war sie nun in ein Trauerhaus gekommen, um zu helfen, und sie dachte nur an die eigene Lüsternheit!
„Sage mir, was ich tun soll“, wiederholte sie.
Roger strich mit den Fingerspitzen über den Rand des Trinkglases. „Bleibe hier bei mir“, bat er, ohne sie anzusehen. „Bleibe
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