Flagge im Sturm
Fingern zusammen. Als sie Ned schlucken hörte und dann sah, wie er den Kopf neigte, wusste sie, dass Jonathan hinter sie getreten war.
„Evelyn ist bei einem Unfall ums Leben gekommen, und Roger verlangt, dass ich zu ihm komme“, erläuterte sie leise und reichte ihm den Brief zum Lesen hin. „Ich werde selbstverständlich gehen.“
Rasch überflog Jonathan Rogers Schreiben. Er fluchte leise. Demaris durfte ihn jetzt doch nicht allein lassen, wo noch so vieles zwischen ihnen unausgesprochen war!
„Weshalb zum Teufel solltet Ihr gehen? Ist er gekommen, als Eben gestorben war?“
„Nein“, antwortete sie so leise, dass er sie kaum hören konnte. „Niemand aus Newport ist gekommen. Doch gerade deswegen muss ich jetzt zu Roger gehen. Erkennt Ihr das nicht?“
„Was ich erkenne, ist die Tatsache, dass Ihr entschieden zu vertrauensselig seid“, versetzte er scharf. Wenn da nur nicht der verdammte Kerl an der Tür stünde, dachte er, dann würde ich sie in die Arme nehmen und ihr zeigen, weshalb sie nicht gehen sollte. „Was ich erkenne, ist ein Mann, dessen Gattin tot umgefallen ist, eine Gattin, die er nach Euren eigenen Worten zuvor verprügelt hat.“
Bei dieser Anspielung stockte Ned der Atem. Demaris schüttelte nur den Kopf. „Roger hat dies hier nicht getan, Jonathan, und es ist mir nicht recht, dass Ihr dergleichen andeutet.“
Er packte sie am Arm. „Bleibt hier, Demaris.“
„Ihr gebt mit Befehle?“, fragte sie eher traurig als böse. Ruhig zog sie ihren Arm aus Jonathans Griff. „Wenn ich glaubte, dass er Evelyn umgebracht hat, würde ich nicht gehen. Ich würde niemals mit jemandem sprechen, der einem anderen Menschen das Leben genommen hat. Ihr solltet mich eigentlich gut genug kennen, um das zu wissen. “
O ja, ich weiß das gut genug, dachte Jonathan bitter, und zum tausendsten Mal sah er das verzerrte Gesicht des Seemannes vor sich, als diesem die Klinge tief in die Brust gedrungen war. Jonathan wusste zu gut: Falls Demaris jemals die Wahrheit erführe, wäre sie für immer für ihn verloren.
Er hielt Demaris nicht länger fest und ließ sie gehen. Er konnte nur darum beten, dass sie zu ihm zurückkehrte. Sie musste einfach zurückkommen, denn wie sollte er ihr sonst erklären, wie sehr er sie liebte?
Immer wieder ging Roger mit flatterndem Schlafrock im Wohnzimmer auf und ab. Als ihm das bewusst wurde, blieb er stehen, atmete tief durch und zwang sich dazu, sich zu entspannen. In seine Trauer versunken zu sein war das eine, und jeder würde das verstehen. Doch herumzulaufen wie ein
Kater, den das schlechte Gewissen drückte, war etwas ganz anderes, zumal er, Roger, gar kein schlechtes Gewissen zu haben brauchte.
Es war nicht seine Schuld, dass seine Gattin verblichen war. Das war die reine Wahrheit. Sie hatten sich gestritten, Evelyn war davongelaufen und dann aus eigener Ungeschicklichkeit die Treppe hinuntergestürzt. Er hatte sie nicht berührt, und deshalb traf ihn keine Schuld.
Er sah sie noch vor sich, wie sie wild mit den Armen ruderte, und wie ihre Spitzenunterröcke flatterten. Er meinte auch das Geräusch gehört zu haben, als ihr Hals brach, doch wahrscheinlich hatte er sich das nur eingebildet. Dr. Clifton hatte jedenfalls gesagt, sie könnte ebenso gut auf der ersten wie auf der letzten Stufe gestorben sein.
Dennoch konnte Roger noch immer dieses seltsame kleine Knacken hören, und den Anblick des Leichnams, der wie eine fortgeworfene Puppe am Boden lag, wurde er auch nicht los. Trotzdem traf ihn keine Schuld, und niemand durfte etwas anderes behaupten.
Und er hatte Evelyn einst geliebt.
Die Kerzen auf dem Tisch waren längst heruntergebrannt. Das frühe Tageslicht fiel schon durch die Ostfenster, und die aufgehende Sonne vergoldete die langen Flügel der Windmühlen auf dem Hügel über der Stadt. Wie viele Menschen mochten schon von Evelyns Tod erfahren haben? Schlechte Kunde verbreitete sich immer schnell.
Wenn ich anordne, die Fensterläden zu schließen, überlegte Roger, dann kann ich mir Besucher vielleicht bis zum Nachmittag, möglicherweise sogar bis morgen fernhalten. Die Fragen seiner Bekannten würden als Beileidsbezeigungen maskiert sein, und je länger er die Leute hinhielt, desto neugieriger würden sie werden.
Tief in Gedanken zupfte er an seinem Ärmel. Die große Standuhr in der Eingangsdiele schlug sieben. Demaris musste jetzt bald eintreffen.
Es war Dr. Cliftons Idee gewesen, sie aus Nantasket kommen zu lassen, doch während Roger an sie
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